Im Gedenken wieder vereint

Gunter Demnig im Gespräch über seine Stolpersteine

Eine Voraussetzung zur Verlegung der Stolpersteine Ihrerseits ist, „dass im Gedenken die Familien wieder zusammengeführt werden“. Was meinen Sie genau damit, was wollen Sie erreichen?
In Deutschland haben die Juden sehr früh gemerkt, dass es gefährlich wird. Sie haben versucht, ihre Kinder zu retten. Aber wer schickt seine Kinder freiwillig in die Wüste nach Palästina oder zu den Kindertransporten?
Ich denke, das Bewusstsein oder die Ahnung war da, dass die Familien sich nicht wiedersehen. Das heißt, sie gehören in der Erinnerung einfach zusammen – das ist mir sehr wichtig.
Prägend war für mich eine der ersten Stolpersteinverlegungen in Rotenburg (Wümme): Die Eltern der Familie kamen in Auschwitz um, aber ihre beiden Töchter waren über einen Kindertransport gerettet worden.
Zur Verlegung reisten die beiden Töchter quicklebendig an – eine aus Kolumbien, eine aus Schottland. Beide hatten sich seit 60 Jahren nicht mehr gesehen. Und sie waren so glücklich darüber, im Gedenken wieder mit ihren Eltern zusammen zu sein.

 

Die Stolpersteine bilden das größte dezentrale Mahnmal der Welt. In Deutschland sind sie allgegenwärtig. Wie sind die Reaktionen auf die Stolpersteine in anderen europäischen Ländern?
Immer positiver, sodass wir uns vor Arbeit eigentlich nicht retten können. Egal wo, die Verlegung neuer Stolpersteine und die jeweiligen Schicksale sind immer wieder eine berührende Sache, das geht nicht vorbei.

 

Aufgrund der Corona-Pandemie mussten Sie Ihre Reisen nach Osteuropa zur Verlegung weiterer Stolpersteine absagen. Was bedeutet das?
Das ist eigentlich kein Problem. Ich muss die Steine nicht unbedingt immer persönlich verlegen. Die Steine sind von den Beauftragten der Stadt verlegt worden. Es wurden Fotos gemacht, die zu den Angehörigen nach Amerika, nach Israel etc. geschickt wurden.
Denn auch die konnten nicht kommen. Wenn wir alle wieder reisen können, dann kommen sie zusammen: Die Steine werden geputzt, es wird ein Tuch draufgelegt und es gibt eine Denkmalenthüllung. Es geht also weiter. Das Projekt ist nicht gebremst. Wir sind in der Herstellung so weit, dass sogar noch ein Helfer eingestellt wurde.

 

Inwieweit tragen die Stolpersteine, die in über 26 europäischen Ländern verlegt sind, zu einem gemeinsamen europäischen Gedenken bei?
In der Regel sind wir alle doch sehr viel unterwegs in Europa. Sieht man dann die Stolpersteine auch in anderen Ländern, merkt man schnell: „Hier auch.“ Wir sehen deutlich, wo überall die deutsche Wehrmacht, die SS, die Gestapo ihr Unwesen getrieben haben.

 

2018 haben Sie auf Mallorca zum ersten Mal sogenannte „Remembrance Stones“ in Erinnerung an die Opfer der Franco-Diktatur in Spanien verlegt. Wie kam es dazu?
Das fing mit den sogenannten Rotspaniern an. Die Universität in Barcelona hatte eine Initiative gestartet, um die Rotspanier zu würdigen, die gegen Franco gekämpft hatten und dann fliehen mussten. Sehr viele sind nach Frankreich und haben sich der Résistance angeschlossen. Aber ungefähr 6.000 von ihnen sind von der Gestapo festgenommen und in Mauthausen ermordet worden. Für diese Rotspanier haben wir farblich abgehobene Stolpersteine aus Edelstahl gemacht – die „Remembrance Stones“.
Für mich ist besonders das Interesse von Schülern und Studierenden wichtig. Wenn sie z. B. bei einer Verlegung dabei sind und über Namen auf den Stolpersteinen einen anderen Geschichtsunterricht erfahren. Wenn junge Menschen heute ein Buch aufschlagen und von sechs Millionen Juden lesen, die im Holocaust ermordet wurden, bleibt es eine abstrakte Größe. Aber sobald eine Auseinandersetzung mit Familienschicksalen stattfindet, fangen auch die Schüler an zu rechnen: „Der war ja so alt, wie ich jetzt bin, als der nach Palästina oder zum Kindertransport geschickt worden ist.“

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Gunter Demnig & Theresa Brüheim
Gunter Demnig ist Künstler und steht hinter den Stolpersteinen. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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