Es liegt mittlerweile über drei Jahre zurück, dass der AfD-Politiker Björn Höcke in einer Rede vor der Jugendorganisation seiner Partei eine 180-Grad-Wende der deutschen Erinnerungskultur forderte. Die Deutschen würden sich zu stark der Vergangenheitsbewältigung widmen und sollten statt nationalsozialistischer Verbrechen lieber die ruhmreichen Seiten ihrer Geschichte thematisieren. Besonderen Anstoß nahm er am Berliner Holocaust-Mahnmal: „Wir Deutschen sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“, so Höcke. Die Rede schlug hohe Wellen und wurde von verschiedenen Seiten verurteilt, griff sie doch den breiten erinnerungspolitischen Konsens in Bezug auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus an. Fast vergessen schienen dabei die Auseinandersetzungen, die es seinerzeit um den Bau des Mahnmals gegeben hatte. Der Herausgeber des Spiegels, Rudolf Augstein, nannte es 1998 in einem Artikel ein „gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland“ gerichtetes „Schandmal“, Schriftsteller Martin Walser sprach vom „fußballfeldgroßen Alptraum im Herzen der Hauptstadt“ und einer „Monumentalisierung der Schande“ und der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen fürchtete, dass Berlin durch das Mahnmal zu einer „Hauptstadt der Reue“ werden könnte.
Dass solche Aussagen heute nur noch von Vertretern der äußersten Rechten vorstellbar sind, zeigt, dass das Mahnmal in der Hauptstadt angekommen ist. Die Betonstelen, die keine Interpretation aufdrängen wollen und eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den europäischen Juden ermöglichen, gehören mittlerweile zu Berlin wie das Brandenburger Tor. Der Ort des Erinnerns an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hat seinen festen Platz nur wenige Meter entfernt vom Symbol der Deutschen Einheit gefunden. Einzigartig ist dieser Erinnerungsort in Ausmaß, Form und Lage gewiss, doch historisch einzigartig war auch der Holocaust, der auf Rassenwahn basierende, industrielle Massenmord an den Juden. Wie man angemessen an das unvorstellbare Grauen erinnert, entzieht sich einer abschließenden Antwort, doch das Berliner Mahnmal ist neben KZ-Gedenkstätten und Informationszentren sicherlich ein Ort, an dem die Beschäftigung mit der Thematik befördert wird.
Dass die Stelen zur Zeit ihrer Planung und Errichtung zu Steinen des Anstoßes wurden, mag uns in einer Zeit, in der allerorten Denkmäler von nicht mehr als heroisch empfundenen Helden stürzen, merkwürdig vorkommen, doch war die Errichtung von Mahnmalen ein Bruch mit den bisherigen architektonischen Formen der Erinnerung. Deutsche Städte waren und sind nach wie vor geprägt von Denkmälern, deren Intention die Glorifizierung von Personen und Ereignissen war. Reiterstandbilder von Generälen und Monarchen, Statuen von Dichtern, Denkern und Staatsmännern oder die im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges und der Reichsgründung entstandenen patriotischen Siegesdenkmäler sind Beispiele für Jahrhunderte steingewordener Erinnerungskultur, an der sich heute viele reiben. Mahnmale hingegen verfolgen als besondere Form des Denkmals ein anderes Ziel: Sie sollen beim Betrachter Betroffenheit erzeugen und mahnend an die Vergangenheit erinnern. Wie die klassischen Denkmäler kommt ihnen damit eine Funktion in der Erinnerungskultur zu, die immer auch gegenwarts- und zukunftsbezogen ist. Statt eines „Künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung“, wie es sich auf zahlreichen Denkmalinschriften findet, vermitteln die Mahnmale ein „Nie wieder!“. Das eigene historische Versagen deutlich sichtbar zu thematisieren und im Stadtbild zu verankern steht in starkem Kontrast zur früheren architektonischen Verherrlichung der Geschichte und musste damit fast zwangsläufig Widerstand von denjenigen hervorrufen, denen ein derart prominentes In- Szene-Setzen der dunklen Vergangenheit zu viel des Schlechten schien.
Mahnmale halten analog zu ihrer Intention das Erinnern wach, fördern geschichtliche Aufarbeitung und lassen nachfolgende Generationen im Idealfall aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. In Deutschland thematisieren sie vor allem die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus, mahnen aber auch ganz allgemein zum Frieden oder sind gesellschaftlichen Problemen wie der sexuellen Gewalt gegen Frauen gewidmet. Welche Lehren die Betrachter aus den Mahnmalen ziehen, liegt in der individuellen Auseinandersetzung. Keine Interpretation und keine Intention ist – trotz mancher Inschrift – in Stein gemeißelt. Darin gleichen die Mahnmale den Denkmälern. Kaum einer der verewigten Männer – tatsächlich wurden nur höchst selten Frauen verewigt – taugt heute noch als Vorbild, geschweige denn als Held, und auch der chauvinistische Nationalstolz vergangener Zeiten ist nicht mehr anschlussfähig. Dies bedeutet freilich nicht, dass sie deshalb zwangsläufig aus dem öffentlichen Raum entfernt werden müssten. Auch ursprünglich zum Zwecke der Glorifizierung erbaute Denkmäler können Orte der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein: Sie geben, beschäftigt man sich eingehender mit ihnen, Einblick in Denken und Fühlen vergangener Generationen, in Machtverhältnisse, Herrschaftsstrategien und (andauernde) Kämpfe um Deutungshoheit. Durch Kontextualisierung und auch künstlerische Entfremdung oder Ergänzung können sie in ein neues Licht gerückt werden und so – entgegen der Intention ihrer Erbauer – der historischen Aufarbeitung dienen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.