Gunter Demnig & Theresa Brüheim - 2. September 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Denkmalkultur

Im Gedenken wieder vereint


Gunter Demnig im Gespräch über seine Stolpersteine

Seit den 1990er Jahren werden sie in Deutschland, Europa und der Welt immer mehr: die als Stolpersteine bekannten ins Trottoir eingelassenen Gedenktafeln aus Messing. Der Künstler Gunter Demnig erinnert mit ihnen an die Opfer der NS-Zeit.

 

Jeder Stein ist individueller Gedenkort, der namentlich und persönlich würdigt. Er ist aber auch ein vom Bildhauer hergestelltes Kunstwerk. Gemeinsam bilden alle Steine und involvierten Menschen eine soziale Skulptur in Anlehnung an Joseph Beuys. Theresa Brüheim spricht mit Gunter Demnig über die individuell würdigende Erinnerung eines jeden Stolpersteins, die Zusammenführung auseinander gerissener Familien im Gedenken und eine europäische Erinnerungskultur.

 

Theresa Brüheim: Jeden Tag laufe ich an den vier Stolpersteinen der Familie Frankenstein in der Berliner Kolonnenstraße vorbei. Der Vater war Arzt und praktizierte in der Kolonnenstraße 12. Gemeinsam mit seiner Frau und den zwei Kindern hatte die Familie ebendort auch ihre Wohnung – bis ihnen 1938 fristlos Wohnung und Praxisräume gekündigt wurden. Die Familie konnte nach Palästina ausreisen – zuerst die Kinder, dann die Eltern. Das sind vier von über 75.000 Stolpersteinen, die Sie in über 26 europäischen Ländern verlegt haben. Sie berichten unter anderem vom früheren jüdischen Leben. Wie kamen Sie auf die Idee zu den Stolpersteinen, Herr Demnig?
Gunter Demnig: Im Mai 1940 wurden Roma und Sinti zahlreich deportiert. In Erinnerung daran habe ich eine Erinnerungsspur gestaltet. Auslöser dafür war ein Gespräch mit Kurt Holl. Er engagierte sich bei der „Kölner Roma-Initiative“, aus der 1988 der Hilfsverein Rom e. V. hervorging. Im Mai 1990 sollte an diese Deportation gedacht werden. Da ich schon zuvor Schriftspuren gestaltet habe, schlug ich vor, eine Schriftspur von den Wohnhäusern, wo diese Menschen abgeholt wurden, bis zur Deutzer Messe in Köln zu legen. Die Deutzer Messe war Außenlager des KZ Buchenwald, direkt gegenüber war der Bahnhof Köln Deutz tief – ohne die Reichsbahn hätte keine Deportation stattfinden können.
Ich habe dann beim Ordnungsamt einen Antrag gestellt, eine Kreidespur zu machen. Die dachten, ich würde mit Schultafelkreide immer wieder den gleichen Schriftzug zeichnen und genehmigten. Sie wussten nicht, dass ich eine Druckmaschine bauen würde, die fortlaufend den Text – zehn Zentimeter hohe Buchstaben – auf die Straße druckt. An einigen Stellen hat die Spur drei Monate gehalten, da ich mit Fassadenfarbe gearbeitet habe. Das war der Anfang.
Irgendwann war die Spur weggewaschen. Dann kam die Idee, an markanten Stellen, wie Rathaus, Gestapo-Hauptquartier, Polizeipräsidium, Brücken und Wohnhäusern, die Spur in Messing nachzuverfolgen – nur vier Zentimeter hoch, aber dauerhaft verlegt.
Als ich in der Kölner Südstadt verlegte, kam eine ältere Dame, eine Zeitzeugin, dazu, und sagte im Brustton der Überzeugung: „Was Sie hier machen, ist eine ganz schöne Sache. Aber bei uns im Viertel haben niemals ‚Zigeuner‘ gelebt.“ Ich habe ihr meine Unterlagen gezeigt, der Frau ist die Kinnlade runtergefallen. Gerade die Sinti waren seit mehr als 400 Jahren in Westeuropa zu Hause, sie waren total assimiliert – völlig normale Nachbarn. Das war für mich der Auslöser, die Namen dorthin zurückzubringen, wo das Grauen angefangen hat, wo die Menschen zu Hause waren, wo sie ihre Heimat hatten. Denn wer kann sich heute Auschwitz vorstellen, wenn er nicht schon mal dort war?

 

Mit den Stolpersteinen werden nicht nur die Namen zurückgebracht, sondern auch Geburtstag, Geburtsort und weitere kurze Angaben zum Schicksal. Wie bei der Familie Frankenstein aus der Kolonnenstraße kann man so über die Personen recherchieren. Welche Rolle spielt diese individuelle, namentliche Würdigung in unserer Erinnerungskultur?
Es gibt viele Gedenkstätten, die anonym sind. Einmal im Jahr werden Kränze abgelegt, dann ist es wieder vergessen. Für mich war ganz wichtig, die Namen dorthin zu bringen, wo es angefangen hat. Ich möchte sie zurück in unsere Städte holen – dahin, wo die Menschen einst ihren Lebensmittelpunkt hatten. Ich will die Leute wirklich drüber stolpern lassen. Im Talmud heißt es: „Eine Person ist erst dann vergessen, wenn man sich nicht mehr an ihren Namen erinnert.“
Zuerst wollte ich eine Gedenktafel an die Häuser, in denen die Menschen gelebt haben, anschrauben. Bis mir ein jüdischer Redakteur beim WDR gesagt hat: „Gunter, Gedenktafeln an der Wand für die Opfer der Nazis? Vergiss es. 80 bis 90 Prozent der Hausbesitzer sind nichtjüdische Opfer.“ Dann kam die Idee der Stolpersteine auf.

Eine Voraussetzung zur Verlegung der Stolpersteine Ihrerseits ist, „dass im Gedenken die Familien wieder zusammengeführt werden“. Was meinen Sie genau damit, was wollen Sie erreichen?
In Deutschland haben die Juden sehr früh gemerkt, dass es gefährlich wird. Sie haben versucht, ihre Kinder zu retten. Aber wer schickt seine Kinder freiwillig in die Wüste nach Palästina oder zu den Kindertransporten?
Ich denke, das Bewusstsein oder die Ahnung war da, dass die Familien sich nicht wiedersehen. Das heißt, sie gehören in der Erinnerung einfach zusammen – das ist mir sehr wichtig.
Prägend war für mich eine der ersten Stolpersteinverlegungen in Rotenburg (Wümme): Die Eltern der Familie kamen in Auschwitz um, aber ihre beiden Töchter waren über einen Kindertransport gerettet worden.
Zur Verlegung reisten die beiden Töchter quicklebendig an – eine aus Kolumbien, eine aus Schottland. Beide hatten sich seit 60 Jahren nicht mehr gesehen. Und sie waren so glücklich darüber, im Gedenken wieder mit ihren Eltern zusammen zu sein.

 

Die Stolpersteine bilden das größte dezentrale Mahnmal der Welt. In Deutschland sind sie allgegenwärtig. Wie sind die Reaktionen auf die Stolpersteine in anderen europäischen Ländern?
Immer positiver, sodass wir uns vor Arbeit eigentlich nicht retten können. Egal wo, die Verlegung neuer Stolpersteine und die jeweiligen Schicksale sind immer wieder eine berührende Sache, das geht nicht vorbei.

 

Aufgrund der Corona-Pandemie mussten Sie Ihre Reisen nach Osteuropa zur Verlegung weiterer Stolpersteine absagen. Was bedeutet das?
Das ist eigentlich kein Problem. Ich muss die Steine nicht unbedingt immer persönlich verlegen. Die Steine sind von den Beauftragten der Stadt verlegt worden. Es wurden Fotos gemacht, die zu den Angehörigen nach Amerika, nach Israel etc. geschickt wurden.
Denn auch die konnten nicht kommen. Wenn wir alle wieder reisen können, dann kommen sie zusammen: Die Steine werden geputzt, es wird ein Tuch draufgelegt und es gibt eine Denkmalenthüllung. Es geht also weiter. Das Projekt ist nicht gebremst. Wir sind in der Herstellung so weit, dass sogar noch ein Helfer eingestellt wurde.

 

Inwieweit tragen die Stolpersteine, die in über 26 europäischen Ländern verlegt sind, zu einem gemeinsamen europäischen Gedenken bei?
In der Regel sind wir alle doch sehr viel unterwegs in Europa. Sieht man dann die Stolpersteine auch in anderen Ländern, merkt man schnell: „Hier auch.“ Wir sehen deutlich, wo überall die deutsche Wehrmacht, die SS, die Gestapo ihr Unwesen getrieben haben.

 

2018 haben Sie auf Mallorca zum ersten Mal sogenannte „Remembrance Stones“ in Erinnerung an die Opfer der Franco-Diktatur in Spanien verlegt. Wie kam es dazu?
Das fing mit den sogenannten Rotspaniern an. Die Universität in Barcelona hatte eine Initiative gestartet, um die Rotspanier zu würdigen, die gegen Franco gekämpft hatten und dann fliehen mussten. Sehr viele sind nach Frankreich und haben sich der Résistance angeschlossen. Aber ungefähr 6.000 von ihnen sind von der Gestapo festgenommen und in Mauthausen ermordet worden. Für diese Rotspanier haben wir farblich abgehobene Stolpersteine aus Edelstahl gemacht – die „Remembrance Stones“.
Für mich ist besonders das Interesse von Schülern und Studierenden wichtig. Wenn sie z. B. bei einer Verlegung dabei sind und über Namen auf den Stolpersteinen einen anderen Geschichtsunterricht erfahren. Wenn junge Menschen heute ein Buch aufschlagen und von sechs Millionen Juden lesen, die im Holocaust ermordet wurden, bleibt es eine abstrakte Größe. Aber sobald eine Auseinandersetzung mit Familienschicksalen stattfindet, fangen auch die Schüler an zu rechnen: „Der war ja so alt, wie ich jetzt bin, als der nach Palästina oder zum Kindertransport geschickt worden ist.“

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.


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