Vor einem Jahr, als Ihr Buch erschienen ist, sagten Sie: Aufgabe von Helden sei es, eine gefährdete Ordnung durch risikoreiche Intervention zu befestigen oder weiterzuentwickeln. Damals kannte noch niemand das Wort „Coronakrise“. Was bedeutet der Satz heute?
Die Demokratie ist, wie die Gesellschaft insgesamt, in einer enormen Belastungsprobe durch Corona. Man sieht da zweierlei: Erstens tut es einer Gesellschaft gut, wenn die Institutionen funktionieren. Es könnte ja sein, dass Politiker, die selber mit einer Heldenrolle liebäugeln, wie Trump oder Bolsonaro, am Ende als Verlierer dastehen. Weil sie auf ihrem Egotrip einer solchen systemischen Krise nicht gewachsen sind. Damit ist aber das Heldenthema nicht abgeräumt. Wir haben auch eine wahre Flut von Heldenrhetorik erlebt mit Blick auf „Helden des Alltags“.
Demokratie besteht nicht nur aus funktionierenden Institutionen, sondern aus Menschen, die sich für etwas einsetzen. Da sind wir schon nah an Herausforderungen und Gefahren. Allerdings sind sehr viele Menschen recht großzügig mit dem „Heldentitel“ bedacht worden. Es gab eine Flut von Anerkennung. Nun muss man aber schon sehr genau hinschauen: War das echtes Lob oder falscher Trost? Mich macht misstrauisch, dass dieser Heldentitel mit enormer Großzügigkeit verteilt wurde – gleichzeitig auch mit enormer Gleichgültigkeit. Man hat einfach die Massen zu Helden erklärt. Eine regelrechte Heldeninflation. Wenn das echt sein sollte, müsste man schon genauer Anteil am persönlichen Schicksal und der Leistung von Menschen nehmen. Und nicht Abertausenden von Menschen, die im Zweifelsfall in unteren Lohngruppen arbeiten, gönnerhaft auf die Schulter klopfen. Das ist die Kehrseite der „Heldeneuphorie“, die zeitweilig herrschte.
Was unterscheidet „Held“ von „Vorbild“ oder „Idol“?
Helden sind immer Vorbilder, aber nicht alle Vorbilder sind Helden. Vorbilder können im Zweifelsfall ihre Rolle perfekt ausfüllen – ohne sich dabei in Gefahr zu bringen. Der große Sportler oder Arzt, der andere dazu anstiftet, zu trainieren oder sich auszubilden, ist ein Vorbild, aber nicht unbedingt ein Held. Es fehlt das Moment, sich in Gefahr zu bringen. Viele schwärmen von einer Gesellschaft, in der die Gefahr gewissermaßen ausstirbt – dann braucht man auch keine Helden mehr. Das mag ein wünschbares Ideal sein, ist aber komplett unrealistisch. Wir werden immer gefährliche Situationen überstehen müssen. In diesem Sinne wird es nie eine postheroische Gesellschaft geben. Irgendwann kommt der Schritt vom Vorbild zum Held oder zur Heldin.
Idol ist eine Art Vorbild mit Fragezeichen. Idole tauchen häufig in Situationen auf, in denen Menschen sich Illusionen machen. Idolen werden Eigenschaften zugeschrieben, die sie gar nicht haben. In demokratischen Gesellschaften dürfen wir aber unsere Kritikfähigkeit nicht an der Ladentheke des Heldentums abgeben. Helden sind Figuren, die den Test der Zeit und der Kritik überstehen müssen.
Welche Gegenwartshelden sehen Sie derzeit? Vor der Coronakrise wurde Greta Thunberg häufig so bezeichnet. Sie haben sie „Heldin in Probezeit“ genannt. Gilt das noch?
Ich würde sie nach wie vor so bezeichnen. Das hängt mit der Frage zusammen, wie der Test der Zeit bestanden wird, und wie die Projektion von außen mit der Person von innen zusammenpasst. Greta Thunberg setzt sich zweifellos für eine gute Sache ein, sie bringt sich auch in Gefahr – in dem Sinne, dass sie mit einer unglaublichen Menge Hass konfrontiert wird. Das muss man als junger Mensch erst mal verkraften. Man würde ihr aber keinen Gefallen tun, wenn man sie in eine enorme Sonderrolle versetzt. Sie selbst weist die Rolle auch immer zurück. Man muss einem jungen Menschen die Zeit lassen und schauen: Wie verkraftet diese junge Frau die enorme Verantwortung, mit der sie überschüttet wird? Man tut gut daran abzuwarten. „Heldin in Probezeit“ halte ich für einen ehrenvollen Titel.
Wer kommt sonst noch in Frage? Die Coronakrise zeigt, dass es Menschen gibt, die eher unbekannt sind, aber durch historische Momente zu Helden werden: Z. B. der chinesische Arzt Li Wenliang aus Wuhan, der als Whistleblower die Welt über das Virus informierte, dafür mit Repressionen bestraft wurde und schließlich selbst an der Viruskrankheit starb. Er hat nicht nur versucht, Menschen zu helfen, sondern auch die politischen Rahmenbedingungen ein Stück weit verändert.
Einer meiner wichtigsten Helden vor Corona war Edward Snowden. Bei Amerikanern hat mir das Ärger eingehandelt, nicht nur bei Trump-Freunden. Denn für sie ist Snowden eben in erster Linie jemand, der amerikanische Interessen verletzt hat. Aber für mich verkörpert Snowden in besonderer Weise die genannten Eigenschaften, die man mit einem Helden verbindet.
Historisch treten uns Helden überwiegend als „Kriegshelden“ entgegen – haben die in einer demokratisch-zivilen Gesellschaft überhaupt noch Platz? Und: Welches ist überhaupt die richtige Form der Würdigung und Erinnerung an Helden? Jenseits von Statuen aus Bronze oder Stein?
Wir haben in Deutschland ein besonderes Problem mit dem Heldentum, weil es durch die NS-Zeit komplett desavouiert wurde. Außerdem war es hier, anders als in anderen Ländern, traditionell sowieso enger mit dem Krieg gekoppelt.
Wir hatten nie eine solche erfolgreiche freiheitliche Revolution wie die Franzosen oder Amerikaner. Bei denen ist das Heldenthema nicht so eng mit dem Kriegshelden verbunden. Es war immer klar, dass es auch humanitäre Helden gibt. Denken Sie z. B. an Martin Luther King oder an Nelson Mandela in Südafrika.
Wenn wir die deutsche Geschichte anschauen, stoßen wir nicht sofort auf eine Figur wie Martin Luther King. Aber von den Helden des Widerstands gegen das NS-Regime bis zu den Heldinnen der Frauenbewegung gibt es doch Menschen, die unsere Bewunderung verdienen.
Erinnerung ist sowieso ein schwieriges Kapitel für das Heldentum: In dem Moment, wo Helden auf das Podest gestellt werden, ist oft schon der Weg ins Vergessen geebnet. Wenn etwas zu Stein erstarrt, wird es leblos und vielleicht auch uninteressant. Tatsächlich laufen wir doch an den Straßennamen und Denkmälern in unseren Städten meist achtlos vorbei.
Die entscheidende Herausforderung besteht darin, zu verhindern, dass die Personen, die für unsere Gesellschaft wichtig sind, in unseren Gedanken versteinern. Es geht darum, sie am Leben zu erhalten. Dafür ist eine Mischung aus festen Ankerpunkten und lebendiger Aneignung erforderlich.
Ich bin nicht dagegen, demokratische Helden auf ein Podest zu stellen. Hauptsächlich aber ist wichtig, die Erinnerung an das, wofür sie gestanden haben, wachzuhalten. Einfach nur eine Figur aufzustellen ist nicht sehr inspirierend.
Es gibt aber gelungene Beispiele für Denkmäler, die die Sache vermitteln, für die diese Menschen gestanden haben, und nicht das Konterfei.
An der französisch-spanischen Grenze in den Pyrenäen gibt es an dem Ort, wo Walter Benjamin sich 1940 das Leben nahm, weil sein Fluchtversuch scheiterte, ein extrem beeindruckendes Denkmal. Das ist keine Benjamin-Statue, sondern versucht, die Stimmung, die durch seine Schriften weht, nachzuempfinden. Dieses Denkmal steht für eine Mischung aus Bedrückung und Freiheitsbedürfnis, die für viele demokratische Helden typisch ist.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.