Demokratien brauchen Helden, Menschen sehnen sich nach Lichtgestalten – meint der Philosoph Dieter Thomä. Aber wer ist überhaupt ein Held? Was unterscheidet sie von Idolen oder Vorbildern? Wie beeinflussen sie Identitäten? Hans Jessen fragt nach.
Hans Jessen: Herr Thomä, im Zuge von Black Lives Matter wurden – im Sinne des Wortes – Figuren vom Sockel gestürzt, die über Jahrzehnte als „Helden“ galten. Von Bürgerkriegsgeneralen in den USA bis zum Stadtvater Edward Colston in Bristol – der eben auch Sklavenhändler war. Was haben Sie bei diesen Aktionen empfunden und gedacht?
Dieter Thomä: Ich habe mich hinter dem farbigen amerikanischen Künstler Titus Kaphar versteckt, der sich sehr intensiv mit der Geschichte der Sklaverei befasst. Auf die Frage, ob man diese Denkmäler stürzen oder stehen lassen sollte, sagte Kaphar: „Wenn es wirklich nur diese beiden Alternativen gäbe, wäre ich fürs Abreißen. Die bessere dritte Variante aber wäre: Die Denkmäler ergänzen.“ Er schlägt vor, sie durch Informationen zu konterkarieren, die an die Nachtseite dieser Generäle erinnern. Das hätte auch den Vorteil, dass es für die Reaktionäre viel schwieriger wäre, diese kontextualisierten Denkmäler zu verkraften, als einen leeren Sockel zu sehen, über den sie sich ewig beschweren könnten. Diese Idee kann man auch auf die Situation in Deutschland beziehen: Wir sollten keine Ekelpakete einfach so auf dem Podest stehen lassen, aber wir sollten auch nicht die Gegenstrategie fahren und aus unserem Land ein Unschuldslamm machen, nach dem Motto: Wir benennen unsere Straßen jetzt nur noch nach Tieren, die sowieso nichts Böses ausfressen können.
Sind solche Aktionen – die auch vor dem britischen Ex-Premier Winston Churchill nicht haltmachen – ein Widerspruch zu Ihrer These, dass Demokratie Helden brauche, oder bedeuten sie: Es kommt darauf an, welche Helden?
Die Aktionen stehen nicht im Widerspruch zu meiner These, denn sie zeigen ja, dass mit diesen Figuren viel verbunden wird. Die Figuren dienen als Anziehungs- oder Abstoßungspole, sie mobilisieren Energien. Personen sind in der Politik wichtig, lebende Personen, aber offenbar auch tote Personen, sonst könnte man ja fragen: „Ok, warum sind jetzt die paar Kilo Bronze so wichtig?“
Es geht in politischen Systemen eben nicht nur um den Wortlaut der Gesetze, sondern auch um Identifikationsfiguren. Im Streit um diese Figuren schaut ein Volk auch in den Spiegel und sieht sich selbst.
Gibt es eine Kurzformel für das, was eine Person zum Helden macht? Offenbar sind es Menschen, die in einer gefährlichen Situation standhaft bleiben, sich der Gefahr entgegenstellen, und dies nicht vorrangig zum eigenen Nutzen, sondern in einem – tatsächlichen oder behaupteten – gemeinschaftlichen Interesse?
Man kann Helden definieren. Sie weisen genau drei Merkmale auf, von denen Sie zwei genannt haben: Sie setzen sich einer Gefahr aus und sie setzen sich für eine gute Sache ein. Und als Drittes: Sie heben sich dadurch von uns normalen Menschen ab.
Wenn man mit diesen drei Kriterien das „Personal“ für mögliche Helden mustert, kommt man schon sehr weit. Damit ist natürlich der Streit vorprogrammiert – allein über die Frage, was eine „gute Sache“ ist. Das kann sich übrigens auch im Lauf der Geschichte wandeln. Auch die „Gefahr“ ist ein Streitpunkt: Es gibt eine bedauerliche Dominanz von Kriegshelden, obwohl auch im zivilen Leben Menschen sich in Gefahr begeben – etwa, wenn sie jemanden aus einem brennenden Haus retten. „Herausheben“ ist ebenfalls ein heikler Punkt – man kann ja auch fragen, ob in der Demokratie jemand herausgehoben werden soll.
Wird mit dem „Herausstechen“ ein Bedürfnis nach Unterschied und Hierarchie bedient? Ein Gegenpol zur Egalität geschaffen? Sind Helden notwendige Elemente zum Aufbau von Identität?
Zu glauben, als guter Demokrat müsse man gegen Helden sein, weil die sich herausheben, halte ich für ein großes Missverständnis. Man ist
ja auch nicht gegen große Schauspieler oder Musiker, die sich heraus-heben – in diesen Fällen erkennt man neidlos an, dass sie etwas tun, was sonst niemand tut. Demokratie steht nicht für Gleichmacherei, sondern für eine Gleichheit, in der sich auch Unterschiede entfalten können. Diese Unterschiede entfalten sich nicht nur seitlich auf einer Ebene, so dass jeder ein bisschen anders ist, sondern sie gehen auch nach oben und nach unten. Ich nenne Helden gern „Frühaufsteher der Geschichte“. Es gibt Menschen, die sich ein bisschen früher herauswagen und dabei auch mehr riskieren.
Insofern verkörpern Helden kein Kontrastprogramm zur demokratischen Egalität, sondern erfüllen eine zentrale Funktion innerhalb der sich weiter entwickelnden demokratischen Gesellschaft.
Vor einem Jahr, als Ihr Buch erschienen ist, sagten Sie: Aufgabe von Helden sei es, eine gefährdete Ordnung durch risikoreiche Intervention zu befestigen oder weiterzuentwickeln. Damals kannte noch niemand das Wort „Coronakrise“. Was bedeutet der Satz heute?
Die Demokratie ist, wie die Gesellschaft insgesamt, in einer enormen Belastungsprobe durch Corona. Man sieht da zweierlei: Erstens tut es einer Gesellschaft gut, wenn die Institutionen funktionieren. Es könnte ja sein, dass Politiker, die selber mit einer Heldenrolle liebäugeln, wie Trump oder Bolsonaro, am Ende als Verlierer dastehen. Weil sie auf ihrem Egotrip einer solchen systemischen Krise nicht gewachsen sind. Damit ist aber das Heldenthema nicht abgeräumt. Wir haben auch eine wahre Flut von Heldenrhetorik erlebt mit Blick auf „Helden des Alltags“.
Demokratie besteht nicht nur aus funktionierenden Institutionen, sondern aus Menschen, die sich für etwas einsetzen. Da sind wir schon nah an Herausforderungen und Gefahren. Allerdings sind sehr viele Menschen recht großzügig mit dem „Heldentitel“ bedacht worden. Es gab eine Flut von Anerkennung. Nun muss man aber schon sehr genau hinschauen: War das echtes Lob oder falscher Trost? Mich macht misstrauisch, dass dieser Heldentitel mit enormer Großzügigkeit verteilt wurde – gleichzeitig auch mit enormer Gleichgültigkeit. Man hat einfach die Massen zu Helden erklärt. Eine regelrechte Heldeninflation. Wenn das echt sein sollte, müsste man schon genauer Anteil am persönlichen Schicksal und der Leistung von Menschen nehmen. Und nicht Abertausenden von Menschen, die im Zweifelsfall in unteren Lohngruppen arbeiten, gönnerhaft auf die Schulter klopfen. Das ist die Kehrseite der „Heldeneuphorie“, die zeitweilig herrschte.
Was unterscheidet „Held“ von „Vorbild“ oder „Idol“?
Helden sind immer Vorbilder, aber nicht alle Vorbilder sind Helden. Vorbilder können im Zweifelsfall ihre Rolle perfekt ausfüllen – ohne sich dabei in Gefahr zu bringen. Der große Sportler oder Arzt, der andere dazu anstiftet, zu trainieren oder sich auszubilden, ist ein Vorbild, aber nicht unbedingt ein Held. Es fehlt das Moment, sich in Gefahr zu bringen. Viele schwärmen von einer Gesellschaft, in der die Gefahr gewissermaßen ausstirbt – dann braucht man auch keine Helden mehr. Das mag ein wünschbares Ideal sein, ist aber komplett unrealistisch. Wir werden immer gefährliche Situationen überstehen müssen. In diesem Sinne wird es nie eine postheroische Gesellschaft geben. Irgendwann kommt der Schritt vom Vorbild zum Held oder zur Heldin.
Idol ist eine Art Vorbild mit Fragezeichen. Idole tauchen häufig in Situationen auf, in denen Menschen sich Illusionen machen. Idolen werden Eigenschaften zugeschrieben, die sie gar nicht haben. In demokratischen Gesellschaften dürfen wir aber unsere Kritikfähigkeit nicht an der Ladentheke des Heldentums abgeben. Helden sind Figuren, die den Test der Zeit und der Kritik überstehen müssen.
Welche Gegenwartshelden sehen Sie derzeit? Vor der Coronakrise wurde Greta Thunberg häufig so bezeichnet. Sie haben sie „Heldin in Probezeit“ genannt. Gilt das noch?
Ich würde sie nach wie vor so bezeichnen. Das hängt mit der Frage zusammen, wie der Test der Zeit bestanden wird, und wie die Projektion von außen mit der Person von innen zusammenpasst. Greta Thunberg setzt sich zweifellos für eine gute Sache ein, sie bringt sich auch in Gefahr – in dem Sinne, dass sie mit einer unglaublichen Menge Hass konfrontiert wird. Das muss man als junger Mensch erst mal verkraften. Man würde ihr aber keinen Gefallen tun, wenn man sie in eine enorme Sonderrolle versetzt. Sie selbst weist die Rolle auch immer zurück. Man muss einem jungen Menschen die Zeit lassen und schauen: Wie verkraftet diese junge Frau die enorme Verantwortung, mit der sie überschüttet wird? Man tut gut daran abzuwarten. „Heldin in Probezeit“ halte ich für einen ehrenvollen Titel.
Wer kommt sonst noch in Frage? Die Coronakrise zeigt, dass es Menschen gibt, die eher unbekannt sind, aber durch historische Momente zu Helden werden: Z. B. der chinesische Arzt Li Wenliang aus Wuhan, der als Whistleblower die Welt über das Virus informierte, dafür mit Repressionen bestraft wurde und schließlich selbst an der Viruskrankheit starb. Er hat nicht nur versucht, Menschen zu helfen, sondern auch die politischen Rahmenbedingungen ein Stück weit verändert.
Einer meiner wichtigsten Helden vor Corona war Edward Snowden. Bei Amerikanern hat mir das Ärger eingehandelt, nicht nur bei Trump-Freunden. Denn für sie ist Snowden eben in erster Linie jemand, der amerikanische Interessen verletzt hat. Aber für mich verkörpert Snowden in besonderer Weise die genannten Eigenschaften, die man mit einem Helden verbindet.
Historisch treten uns Helden überwiegend als „Kriegshelden“ entgegen – haben die in einer demokratisch-zivilen Gesellschaft überhaupt noch Platz? Und: Welches ist überhaupt die richtige Form der Würdigung und Erinnerung an Helden? Jenseits von Statuen aus Bronze oder Stein?
Wir haben in Deutschland ein besonderes Problem mit dem Heldentum, weil es durch die NS-Zeit komplett desavouiert wurde. Außerdem war es hier, anders als in anderen Ländern, traditionell sowieso enger mit dem Krieg gekoppelt.
Wir hatten nie eine solche erfolgreiche freiheitliche Revolution wie die Franzosen oder Amerikaner. Bei denen ist das Heldenthema nicht so eng mit dem Kriegshelden verbunden. Es war immer klar, dass es auch humanitäre Helden gibt. Denken Sie z. B. an Martin Luther King oder an Nelson Mandela in Südafrika.
Wenn wir die deutsche Geschichte anschauen, stoßen wir nicht sofort auf eine Figur wie Martin Luther King. Aber von den Helden des Widerstands gegen das NS-Regime bis zu den Heldinnen der Frauenbewegung gibt es doch Menschen, die unsere Bewunderung verdienen.
Erinnerung ist sowieso ein schwieriges Kapitel für das Heldentum: In dem Moment, wo Helden auf das Podest gestellt werden, ist oft schon der Weg ins Vergessen geebnet. Wenn etwas zu Stein erstarrt, wird es leblos und vielleicht auch uninteressant. Tatsächlich laufen wir doch an den Straßennamen und Denkmälern in unseren Städten meist achtlos vorbei.
Die entscheidende Herausforderung besteht darin, zu verhindern, dass die Personen, die für unsere Gesellschaft wichtig sind, in unseren Gedanken versteinern. Es geht darum, sie am Leben zu erhalten. Dafür ist eine Mischung aus festen Ankerpunkten und lebendiger Aneignung erforderlich.
Ich bin nicht dagegen, demokratische Helden auf ein Podest zu stellen. Hauptsächlich aber ist wichtig, die Erinnerung an das, wofür sie gestanden haben, wachzuhalten. Einfach nur eine Figur aufzustellen ist nicht sehr inspirierend.
Es gibt aber gelungene Beispiele für Denkmäler, die die Sache vermitteln, für die diese Menschen gestanden haben, und nicht das Konterfei.
An der französisch-spanischen Grenze in den Pyrenäen gibt es an dem Ort, wo Walter Benjamin sich 1940 das Leben nahm, weil sein Fluchtversuch scheiterte, ein extrem beeindruckendes Denkmal. Das ist keine Benjamin-Statue, sondern versucht, die Stimmung, die durch seine Schriften weht, nachzuempfinden. Dieses Denkmal steht für eine Mischung aus Bedrückung und Freiheitsbedürfnis, die für viele demokratische Helden typisch ist.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.