Der schwarze Schwan

Die Corona-Pandemie hat auch das Beethoven-Jubiläumsjahr fest im Griff

 

Dass die „Neunte“, die der Utopie einer brüderlich vereinten Menschheit eine zeitlos gültige Form verliehen hat, im Jubiläumsjahr eine besondere Rolle spielt, versteht sich von selbst. Wie kein anderes Werk lässt sich an ihr und an der Geschichte ihrer Rezeption ablesen, wie Beethovens Vermächtnis im politischen Kontext kontinuierlich fortwirkte. Die Instrumentalisierung der »Ode an die Freude« im Nationalsozialismus oder im Unrechtsstaat Rhodesiens kommt einem ebenso in den Sinn wie die Verwendung als Protestsong gegen die Diktatur General Augusto Pinochets oder bei den Studentenunruhen 1989 auf dem Tiananmen-Platz. Umso mehr freut es uns, dass das Beethoven-Haus nach langer und umfassender philologischer Grundlagenforschung zum Jubiläumsjahr den Band der 9. Sinfonie in der neuen Gesamtausgabe veröffentlichen konnte. Der Band enthält neue überraschende Erkenntnisse zu der Sinfonie und ihrer Entstehungsgeschichte. Noch am 11. März 2020 fand, als eines der letzten Konzerte vor dem Shutdown, die erste, leider nicht aufgezeichnete Aufführung nach der neuen Ausgabe im belgischen Leuven mit „Le Concert Olympique“ und dem „Octopus Symfonisch Koor“ unter der Leitung von Jan Caeyers statt.

 

Nicht ohne Symbolik ist die Tatsache, dass die vorerst letzten Kammermusikkonzerte des Jubiläumsjahres im Beethoven-Haus am 7. und 8. März ausgerechnet von Daniel Hope bestritten wurden, der mit einem Mini-Festival unter dem Titel „My Beethoven“ seinen Einstand als neuer Präsident des Beethoven-Hauses gab.

 

Mit Daniel Hope an der Spitze, einem grundlegend neu gestalteten Museum und vielen neuen musikwissenschaftlichen und konzertanten Impulsen sind die Weichen an sich gut dafür gestellt, dass das Beethoven-Haus gestärkt aus der Krise hervorgeht. Unabhängig von der Frage, wann es wieder möglich sein wird, Menschen an seinem Geburtsort oder sonst wo für Konzerte und musikwissenschaftliche oder museale Angebote zu versammeln, stellt sich die Frage, welchen Beethoven wir in diesem Jahr noch entdecken können.

 

Ich glaube, dass wir ihn als Schöpfer von Werken entdecken, die uns in dieser Zeit schwerster Prüfungen Hoffnung und Kraft gegeben haben. Ich glaube, dass wir den Musterbrecher und radikalen Künstler entdecken, der jegliche Form von Routine scheute und Musik in jedem Werk, in jeder Gattung, von Grund auf neu dachte. Und den Beethoven, dessen Musik für jene Freiheit und Mitmenschlichkeit steht, deren Bedeutung wir aus der Isolation heraus umso mehr erkennen. Am Ende des Jubiläums werden, davon bin ich überzeugt, keine beziehungslose Verehrung eines Klassikers, sondern berührende Gemeinschaftserlebnisse bei Live-Konzerten und die Entdeckung einer unbekannten Aktualität Beethovens stehen.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Malte Boecker
Malte Boecker ist Direktor des Beethoven-Hauses Bonn und Künstlerischer Geschäftsführer der Beethoven Jubiläums GmbH.
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