Malte Boecker - 23. Juni 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

250 Jahre Beethoven

Der schwarze Schwan


Die Corona-Pandemie hat auch das Beethoven-Jubiläumsjahr fest im Griff

Stell dir vor, es ist Beethoven Jubiläum und keiner darf hin. Unter den Szenarien, die unser Denken im Vorfeld des 17. Dezember 2020, Beethovens 250. Geburtstag, bestimmt hatten, war dies, um ein Bild von Nassim Nicholas Taleb zu verwenden, der schwarze Schwan: das unvorstellbarste aller unwahrscheinlichen Ereignisse. Seit Mitte März hat das Kontaktvermeidungsgebot die im Dezember 2019 mit viel Aufmerksamkeit gestarteten Festivitäten im eisernen Griff. Für das Beethoven-Haus gilt: Schließung des Museums, Absage der Konzerte und Kurzarbeit. Was für ein Paradox: Beethovens taubheitsbedingte Isolation „übersetzt“ sich zu einer bestimmenden Erfahrung dieses Jubiläums. Künstler kämpfen damit, gehört zu werden. Publikum erlebt das Verstummen von Kultur. Weder das befürchtete Überangebot eines ritualisierten Konzertbetriebs, noch die Kannibalisierung des »more of the same«, bestimmen mit einem Male dieses Jubiläum, sondern die Gefährdung von Beethovens Musik und seinen Vorstellungen von Freiheit, Fortschritt und Mitmenschlichkeit. In der NZZ fragt sich Laurenz Lütteken, „(v)ielleicht ist nun der Augenblick gekommen, sich an diese schwierig zu fassende Macht der Musik zu erinnern, sie als Geschenk neu zu entdecken“. In der Krise ist Beethoven, seine unbedingte Sehnsucht nach einem Leben in und mit der Musik kein Überbleibsel mehr aus einer stets ferneren Welt, sondern aktueller denn je. Plötzlich bekommt jede Form des Miteinanders, die uns bei Beethoven mit jeder Note anspringt,
wirkliche Bedeutung. Plötzlich wird der Behauptungswille seiner Musik greifbar, etwa wenn die Menschen aus der Isolation heraus in ihren Balkonkonzerten die Freudenmelodie anstimmen. Und plötzlich ist ein Wille zur Innovation spürbar, den wir in Zeiten der totalen Verfügbarkeit von Musik so nicht vernommen haben. „What seemed impossible, is now inevitable“ bringt es Robert Wilson in einem wunderbaren Text auf den Punkt, den er in einem Hauskonzert ohne Publikum mit Daniel Hope über Arvo Pärt’s Musikstück »Spiegel im Spiegel« legt. Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit, Beethoven neu zu entdecken, wie es das Jubiläum #BTHVN2020versprochen hat?

 

Im Beethoven-Haus Bonn versuchen wir das Beste aus der Situation zu machen. Dabei hilft die hervorgehobene Rolle, die wir als Geburtshaus des Jubilars von Anfang an innehatten. Denn die meisten unserer Vorhaben durften wir gleich zum Auftakt des Jubiläums und damit noch vor dem Shutdown und dem notgedrungenen Rückzug in die Kurzarbeit realisieren.
So konnten wir Mitte Dezember 2019 einen musealen Doppelschlag präsentieren: Zum einen wurde das räumlich erweiterte und von der Architektin Barbara Holzer grundlegend neu gestaltete Beethoven-Haus Museum, zum anderen die zentrale Sonderausstellung zum Jubiläumsjahr mit einer Vielzahl bedeutender Exponate in der Bundeskunsthalle eröffnet. Beide Ausstellungen haben sich zu einem großen kulturhistorischen Aufriss über Beethoven als einen der wichtigsten Repräsentanten jener »Sattelzeit« ergänzt, die den Übergang des Feudalismus zur bürgerlich-freiheitlichen Moderne markiert. Wenn auch nur für wenige Wochen, wurde Bonn mit seinen Museen zum Mekka unzähliger Beethoven-Liebhaber und konnte aus den historischen Rückblicken heraus jeweils die Modernität Beethovens besonders gut vermitteln.

 

Im Januar 2020 schloss sich mit der „BTHVN WOCHE“ ein von Tabea Zimmermann künstlerisch gestaltetes Kammermusikfestival an. Tabea Zimmermann, die designierte Ernst von Siemens Musikpreis-Trägerin in 2020, verfolgte in Anlehnung an das von unserem ersten Ehrenpräsidenten Joseph Joachim 1890 begründete Kammermusikfest einen zyklischen Ansatz und präsentierte die gesamte Kammermusik Beethovens in 16 Konzerten. Was sich vordergründig wie ein einfaches „Beethoven Total“-Konzept las, entpuppte sich als beispiellose und exemplarische Aufführung von Beethovens Kammermusik, die unvergessliche Hörerfahrungen eröffnete. Von dem Madrider Musikwissenschaftler Luis Gago dramaturgisch unterstützt, spürte Tabea Zimmermann den Querverbindungen und Beziehungen innerhalb der Kammermusik Beethovens nach. Dazu wurden die einzelnen Werkgattungen nicht wie im Konzertbetrieb sonst üblich jeweils für sich präsentiert – pro Konzert entweder Duos, Streich- oder Klaviertrios etc.–, sondern innerhalb eines Konzertes in wechselnden Besetzungen.

 

Unmittelbar im Anschluss an das Kammermusikfest versammelte unser Haus, das seit 1927 im sogenannten Beethoven-Archiv systematisch Beethoven-Forschung betreibt, an die 200 der führenden Musikwissenschaftler aus aller Welt zu einem fünftägigen Beethoven-Kongress. Eines der Themen galt Beethoven als einem politischen Künstler. Die Kernfrage lautete, inwieweit sich in Beethovens Biografie und Werk die historischen Umwälzungen seiner Zeit spiegeln: die Französische Revolution, die Schreckensherrschaft, Aufstieg und Fall Napoleon Bonapartes, die Schlachten bei Wagram und Leipzig, der Wiener Kongress und die von ihm so verhasste Ära politischer Repression. Wie beurteilen wir Beethovens Verhältnis zu wechselnden politischen Umständen? War er vom Selbstverständnis her Hofmusiker, Revolutionär oder politischer Opportunist, oder alles zu verschiedenen Zeiten? Hinweise, Anekdoten und widersprüchliche Überlieferungen gibt es zuhauf. Umso schöner, dass das Beethoven-Haus rechtzeitig zum Jubiläumsjahr einen bislang völlig unbekannten Beethoven-Brief von 1795 erwerben konnte, der sich nicht nur wie eine programmatische Vorwegnahme der 9. Sinfonie liest, sondern auch zeigt, wie sehr sich Beethoven als junger Mensch mit den Idealen der Aufklärung und Französischen Revolution identifizierte: Beethoven bemitleidet in dem Brief seinen Bonner Jugendfreund Heinrich von Struve, der sich nach Russland aufgemacht hatte, dass er „jezt in dem Kalten Lande (sei), wo die Menscheit noch so sehr unter ihrer Würde behandelt wird“. Aus der gemeinsamen Bonner Zeit weiß Beethoven, dass diese Verhältnisse wider Struves Denkungsart, wider sein Herz und überhaupt wider sein ganzes Gefühl geht. Beethoven fragt sich, wann der Zeitpunkt kommt, „wo es nur Menschen geben wird“, zweifelt aber daran, dass dieser glückliche Zeitpunkt in naher Zukunft an allen Orten der Welt eintreten wird – „das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch Jahrhunderte vorübergehen“.

 

Dass die „Neunte“, die der Utopie einer brüderlich vereinten Menschheit eine zeitlos gültige Form verliehen hat, im Jubiläumsjahr eine besondere Rolle spielt, versteht sich von selbst. Wie kein anderes Werk lässt sich an ihr und an der Geschichte ihrer Rezeption ablesen, wie Beethovens Vermächtnis im politischen Kontext kontinuierlich fortwirkte. Die Instrumentalisierung der »Ode an die Freude« im Nationalsozialismus oder im Unrechtsstaat Rhodesiens kommt einem ebenso in den Sinn wie die Verwendung als Protestsong gegen die Diktatur General Augusto Pinochets oder bei den Studentenunruhen 1989 auf dem Tiananmen-Platz. Umso mehr freut es uns, dass das Beethoven-Haus nach langer und umfassender philologischer Grundlagenforschung zum Jubiläumsjahr den Band der 9. Sinfonie in der neuen Gesamtausgabe veröffentlichen konnte. Der Band enthält neue überraschende Erkenntnisse zu der Sinfonie und ihrer Entstehungsgeschichte. Noch am 11. März 2020 fand, als eines der letzten Konzerte vor dem Shutdown, die erste, leider nicht aufgezeichnete Aufführung nach der neuen Ausgabe im belgischen Leuven mit „Le Concert Olympique“ und dem „Octopus Symfonisch Koor“ unter der Leitung von Jan Caeyers statt.

 

Nicht ohne Symbolik ist die Tatsache, dass die vorerst letzten Kammermusikkonzerte des Jubiläumsjahres im Beethoven-Haus am 7. und 8. März ausgerechnet von Daniel Hope bestritten wurden, der mit einem Mini-Festival unter dem Titel „My Beethoven“ seinen Einstand als neuer Präsident des Beethoven-Hauses gab.

 

Mit Daniel Hope an der Spitze, einem grundlegend neu gestalteten Museum und vielen neuen musikwissenschaftlichen und konzertanten Impulsen sind die Weichen an sich gut dafür gestellt, dass das Beethoven-Haus gestärkt aus der Krise hervorgeht. Unabhängig von der Frage, wann es wieder möglich sein wird, Menschen an seinem Geburtsort oder sonst wo für Konzerte und musikwissenschaftliche oder museale Angebote zu versammeln, stellt sich die Frage, welchen Beethoven wir in diesem Jahr noch entdecken können.

 

Ich glaube, dass wir ihn als Schöpfer von Werken entdecken, die uns in dieser Zeit schwerster Prüfungen Hoffnung und Kraft gegeben haben. Ich glaube, dass wir den Musterbrecher und radikalen Künstler entdecken, der jegliche Form von Routine scheute und Musik in jedem Werk, in jeder Gattung, von Grund auf neu dachte. Und den Beethoven, dessen Musik für jene Freiheit und Mitmenschlichkeit steht, deren Bedeutung wir aus der Isolation heraus umso mehr erkennen. Am Ende des Jubiläums werden, davon bin ich überzeugt, keine beziehungslose Verehrung eines Klassikers, sondern berührende Gemeinschaftserlebnisse bei Live-Konzerten und die Entdeckung einer unbekannten Aktualität Beethovens stehen.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


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