Zweihundertfünfzig Jahre Beethoven! Und immer wieder erlebe ich, dass meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner verblüfft sind: „Ach sieh an, die bedeutendste handschriftliche Beethoven-Sammlung liegt in Berlin, in der Staatsbibliothek? Ich dachte immer, in Bonn?!“ Nein: nicht in Bonn und auch nirgends sonst, sondern in Berlin. So bestechend und bedeutend auch die Exponate hinsichtlich Leben und Werk Beethovens im Bonner Beethoven-Haus sind, es führt kein Weg an der in Sachen Handschriften weltweit führenden Stellung der Berliner Staatsbibliothek vorbei. Und heute, 2020, wollen wir diese Einzigartigkeit unter Beweis stellen: In einer großen, Beethoven gewidmeten Ausstellung in unserem jüngst aufwendig generalsanierten Haus Unter den Linden.
Dem ersten Anlauf zur sicherlich größten Beethoven-Ausstellung jemals war leider wenig Erfolg beschieden. Die feierliche Eröffnung am Abend des 10. März in Anwesenheit der Staatsministerin kurzfristig abzusagen, war bedauerlich, aber aus bekannten Gründen notwendig und richtig.
So fand die Eröffnung eher „still“, wenngleich weiterhin mit Staatsministerin Monika Grütters statt, die nunmehr gemeinsam mit Journalistinnen und Journalisten die Ausstellung besichtigte – dafür allerdings war unter den gegebenen Umständen sehr viel Zeit, die von der Staatsministerin ausgiebig genutzt wurde, um sich insbesondere mit dem „Brief an die Unsterbliche Geliebte“ wie auch mit Beethovens Wirken in Berlin und seiner besonderen Beziehung zum Preußischen Königshaus zu befassen.
Doch wurde die Bibliothek nach nur vier Tagen Laufzeit der Ausstellung für den Publikumsverkehr auf unbestimmte Zeit geschlossen. Allerorten herrschte Enttäuschung – und umso mehr wollen wir Beethoven unbedingt eine zweite Chance geben. Mit Zuversicht und Mut warten wir nun auf die in diesen Wochen gerne beschworenen „besseren Tage“ und hoffen, im Frühsommer dieses Jahres auch mit unserer Beethoven-Ausstellung reüssieren zu können. Das Beethoven-Jahr 2020 hat ja eigentlich eben erst begonnen …!
Was umfasst diese Sammlung? Wir sprechen von den Sinfonien Nr. 4, 5, 8 und 9 – letztere ist Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes. Sodann von den Klavierkonzerten 1 bis 3 und 5, von der Oper Leonore/Fidelio wie auch von dem berühmten Brief an die Unsterbliche Geliebte. Hinzu kommen etwa 380 Briefe von und an Beethoven sowie 137 der überlieferten Konversationshefte, mit denen der ertaubte Komponist „Gespräche“ mit anderen Personen führte. So unglaublich es 250 Jahre nach seiner Geburt anmutet: Knapp die Hälfte aller überlieferten Handschriften Ludwig van Beethovens hat in Berlin die Zeitläufte unbeschadet überstanden.
„Für Forschung und Kultur“ – so wirbt die Staatsbibliothek sehr treffend für sich; und Beethoven und seine Handschriften vereinen diese beiden Facetten auf sehr glückliche Weise. Die musikhistorische Forschung findet hier die Quellen ihrer musikwissenschaftlichen Studien und Analysen – und zugleich wird hier kulturelle Breitenarbeit betrieben, indem die größten musikalischen Leistungen unseres Kulturkreises nicht allein präsentiert, sondern didaktisch ansprechend erläutert werden. Und beim Interesse für die Inaugenscheinnahme der Originalquellen reichen sich beide Zielgruppen, die Musikwissenschaft und das breitere musikkulturelle interessierte Publikum, in schöner Eintracht die Hand: Beide wünschen sich einen einfachen und schnellen, einen kostenfreien und zeitgemäßen Zugang zu den Quellen, die in ihrer Einzigartigkeit nun einmal weltweit nur ein einziges Mal verfügbar sind und vor diesem Hintergrund eines ganz besonderen Schutzes bedürfen. Eine Beethoven-Handschrift ist nichts, was man tagtäglich hervorholen darf, denn kaum etwas ist empfindlicher als Papier und Tinte: Das eine zerfällt, die andere verbleicht. Wir haben es aber im Grunde mit gleich zwei Ausstellungen zu tun: Nämlich einer traditionell analogen und zusätzlich einer gänzlich digitalen Ausstellung. Die Ausstellung „Diesen Kuß der ganzen Welt“ ist die klassische kuratierte Präsentation, die die inszenierte Auswahl zum Prinzip hat: Weniges wird in den Fokus genommen, aber in Verbindung zueinander gesetzt und auf wissenschaftlichem Niveau erläutert.
Im vergangenen Jahr aber hat die Staatsbibliothek, auch dank der Förderung der BKM, ihre Beethoven-Handschriften komplett digitalisiert. Diese bestechenden Images stehen seither weltweit kostenfrei zur Verfügung. Es geht um fast 20.000 Seiten Musikautographe sowie um 10.000 Seiten schriftliche Konversation, Briefe und andere autographe Dokumente. Hier steht die Menge im Vordergrund, um sich allen Selektionskriterien schon im Vorfeld zu entziehen, hier soll, unkommentiert, allein das Quellenmaterial bereitgestellt werden: und dies in einer Qualität, die Staunen macht. Es ist eine wunderbare Erfahrung, zunächst hier in der Bibliothek das so fragile papierne Original im Schutz der Glasvitrine zu betrachten und anschließend in das Digitalisat immer tiefer hineinzuzoomen und die Schreibweise Beethovens nachzuvollziehen.
Beethoven also für alle – für jene, bei denen sich die Aura, der Zauber allein im Augenschein des Originals mitteilt, und ebenso für jene, denen die digitale Kopie ebenso viel oder sogar noch mehr bedeutet. Ich freue mich sehr, dass dank des gemeinschaftlichen Engagements so vieler Beteiligter hier, auf dieser großen Straße und in diesem so erhabenen Haus des ersten Vierteljahrtausends Beethovens in so fulminanter Weise gedacht wird. Wenige hundert Meter entfernt vom Brandenburger Tor als dem architektonischen Symbol deutscher Trennung wird hoffentlich alsbald wieder die eigenhändige Niederschrift der Europahymne, des musikalischen Symbols deutschen und europäischen Zusammenwachsens, präsentiert. „Alle Menschen werden Brüder“ – von Schiller gedichtet, von Beethoven komponiert, in der Staatsbibliothek bewahrt.
Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.