„Jede Freiheit ist eingeschränkt“

Der Spannungsbogen zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht

Ralf Höcker ist einer der führenden deutschen Presserechtsanwälte auf Seiten geschädigter Unternehmen. Er vertrat bereits Jörg Kachelmann, Recep Tayyip Erdoğan und die AfD, aber auch CDU, SPD und Grüne. Hans Jessen spricht mit ihm über die Schranken der Pressefreiheit und die Arbeit für den Rechtsstaat.

 

Hans Jessen: Herr Höcker, das Grundgesetz garantiert in Artikel 5 die Pressefreiheit und setzt ihr gleichzeitig Grenzen. Was ist eine eingeschränkte Freiheit wert?
Ralf Höcker: Jede Freiheit, jedes Grundrecht ist eingeschränkt. Man kann keine Grundrechte schrankenlos gewähren. Nicht einmal das Grundrecht auf Leben ist schrankenlos gewährt. Wenn Sie jemanden angreifen und der Sie in Notwehr erschießt, dann darf er das. Das ist gerechtfertigt. Da können Sie nicht sagen: „Das verstößt aber gegen mein Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Lebens.“ Grundrechte können nicht schrankenlos sein. Wenn die Presse etwas schreiben möchte, was in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen eingreift, beispielsweise über ihr Privatleben, dann kollidieren zwei Grundrechte. Das Grundrecht auf Pressefreiheit und das Grundrecht auf Privatsphäre. Diese Grundrechte muss man, wie der Verfassungsjurist sagt, in praktische Konkordanz bringen. Das heißt, man muss versuchen, einen Ausgleich zu finden. Das führt mal dazu, dass in das eine Grundrecht eingegriffen wird, mal dazu, dass das andere Grundrecht weichen muss. In sehr vielen Fällen wird in beide Grundrechte eingegriffen. Man versucht, einen Kompromiss zu finden, mit dem alle leben können. Die Grundregel lautet: Kein Grundrecht kann schrankenlos gewährt werden, ansonsten wäre es nicht einmal theoretisch möglich, miteinander zu leben.

 

Früher war die Situation relativ überschaubar. Es gab Printmedien und Sendungen, die am nächsten Tag häufig vergessen und deren Verantwortliche leicht identifizierbar waren. In der digitalen Informationswelt schwindet diese Überschaubarkeit. Das Netz vergisst weniger leicht. Informationen verbreiten sich rasend schnell. Was bedeutet das für den Spannungsbogen zwischen Informations- bzw. Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechten?
Das ist in der Tat eine sehr, sehr, sehr große Herausforderung. Zunächst einmal gibt es heute viel mehr Sender – im Sinne von: Sender von Botschaften – als früher. Es gibt viel mehr Personen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, die irgendwelche Dinge berichten. Früher gab es auch den Tratsch im Treppenhaus, aber wenn die tratschsüchtige Nachbarin Blödsinn verbreitet hat, hat man die nicht unbedingt abgemahnt und von ihr eine Unterlassungserklärung verlangt. Das tut man auch heute noch nicht. Wenn sie das Gleiche aber ins Netz stellt, sie auf Facebook 5.000 Freunde hat und es da für jeden nachlesbar steht, sieht die Situation anders aus. Die Rechtsverletzung, die früher im Treppenhaus an einem Nachmittag verklungen ist, bleibt jetzt dauerhaft im Netz. Dadurch sind heute Privatpersonen, kleine Blogger, winzigste Minimedien mit dem Problem konfrontiert, dass man Persönlichkeitsrechte und Presse- oder Meinungsfreiheit in Ausgleich bringen muss, und dass ihre Rechtsverletzungen möglicherweise verfolgt werden. Damit wächst das Rechtsgebiet des Presse- und Äußerungsrechts. Nicht immer ist herauszubekommen, wer hinter einer Äußerung im Netz steht, das ist ein Problem. Wenn man sich auf Twitter einen Fake-Account einrichtet oder wenn man eine Internetseite ins Netz stellt und das Impressum nicht vernünftig macht, sondern irgendwelche erfundenen Personen reinsetzt, kann man zwar was dagegen machen, aber es ist wirklich schwierig, kostet Geld und das ersetzt einem keiner. Das setzt der praktischen Verfolgbarkeit von solchen Rechtsverstößen Grenzen, was ein Unding ist.

 

Sie selbst gehören zu den bekannten Medienanwälten. Ihre Dienste werden von prominenten Menschen in Anspruch genommen. Kachelmann und Erdoğan haben Sie ebenso vertreten wie in jüngerer Zeit die AfD, aber auch CDU, SPD, Grüne. Das sind sehr unterschiedlich gelagerte Fälle und Klienten. Gibt es dennoch eine Gemeinsamkeit?

Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass alle Menschen sind. Wir haben uns, im Gegensatz zu einigen anderen Kollegen, die berufsethische Verpflichtung zum Maßstab gesetzt, dass wir ausnahmslos jeden vertreten, der sich in presse- und äußerungsrechtlichen Fragen an uns wendet. Das ist unsere Verantwortung als Organe der Rechtspflege. Ich würde das nicht tun, wenn ich eine PR-Agentur wäre. Dann würde ich die Hälfte meiner Mandanten nicht vertreten. Aber wir sind Anwälte. Wir haben die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass jeder Zugang zum Recht bekommt. So sehen wir es jedenfalls. Man kann nicht sagen: Rechtsstaat ja, aber nicht für jeden. Wenn das das Leitbild wäre, würde es dazu führen, dass bestimmten Personen der Zugang zum Rechtsstaat verwehrt würde. Das hätte zwei sehr negative Konsequenzen: Erstens würden diese Personen sich zu Recht vom Rechtsstaat abwenden, weil sie die Ungerechtigkeit erleben, dass sie, obwohl sie Recht haben, kein Recht bekommen, weil sie noch nicht einmal Anwälte finden, die ihre Sache vertreten wollen. Das führt zu Selbstjustiz. Der Rechtsstaat hat den Sinn, zu verhindern, dass Menschen wie in der Steinzeit ihre rechtlichen Angelegenheiten mit der Keule regeln. Deswegen müssen Anwälte jeden vertreten. Idealerweise ohne ideologische Liebäugeleien mit Mandanten. Da droht die zweite negative Konsequenz. Strafrechtler sagen häufig: „Ich mache keine Vergewaltiger. Ich mache keine Kinderschänder.“ Andere sagen: „Ich vertrete keine Nazis.“ oder „Ich vertrete keine islamistischen Terroristen“. Das führt dazu, dass es Szeneanwälte gibt. Die sind das Schlimmste, was es gibt. Leute, die selber Nazis sind und dann nur Nazis vertreten; die selber Islamisten sind und nur Islamisten vertreten. Das ist keine Situation, die man sich wünschen kann. Ganz wichtig für einen Anwalt ist, dass er Distanz zu seinem Mandanten hat. Ganz wichtig ist auch, dass die Justiz auf eine solche Distanz vertrauen kann. Deswegen: Das Idealbild des Anwalts ist, dass er wirklich jeden vertritt. Das ist unser Leitbild.

Ralf Höcker und Hans Jessen
Ralf Höcker wird vom JUVE-Handbuch 2018/2019 als einer der führenden deutschen Presserechtsanwälte auf Seiten geschädigter Unternehmen geführt. Er ist Professor für Deutsches und Internationales Marken- und Medienrecht an der Cologne Business School (CBS). Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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