Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses

Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl im digitalen Zeitalter

Die aktuellen Manifestationen von Antisemitismus im 21. Jahrhundert basieren kognitiv auf tradierten, zum Teil uralten Stereotypen, und emotional auf dem kollektiven Gefühlswert des Hasses und stellen somit eine moderne Reaktivierung des kulturell verankerten Ressentiments dar. Der israelbezogene Antisemitismus, eine dominante Manifestationsform von aktueller Judenfeindschaft im Web 2.0, folgt dem uralten Adaptionsmuster von Judenhass, diejenige Existenzform des Judentums – in diesem Fall den Staat Israel – negativ zu fokussieren, die opportun diffamiert werden kann. Antisemitismus ist nicht bloß ein Vorurteilssystem, sondern ein Weltdeutungs- und Glaubenssystem, das in den abendländischen Denk- und Gefühlsstrukturen verankert ist.

 

Das Echo der Vergangenheit zeigt sich im Internet besonders deutlich: Der alte Anti-Judaismus mit seiner destruktiven Semantik ist immer noch tief eingebaut im kommunikativen Gedächtnis.

 

Über die Sprachgebrauchsmuster der Abgrenzung und Entwertung werden judenfeindliche Stereotype ständig reproduziert und bleiben damit im kollektiven Bewusstsein. Auch die Erfahrung des Holocaust hat diese Tradition nicht gebrochen. Klassische Stereotype der Judenfeindschaft prägen mit über 54,02 Prozent maßgeblich den Antisemitismus 2.0. Zu konstatieren ist, dass Juden- und Israelhass dabei eine konzeptuelle Symbiose bilden, die maßgeblich vom Kollektiv-Konzept des „Ewigen Juden“ mit seinen über Jahrhunderte hinweg konstruierten Merkmalen „Juden als Fremde/Andere/Böse, als Wucherer, Ausbeuter und Geldmenschen, als rachsüchtige Intriganten und Machtmenschen, Mörder, Ritual- und Blutkultpraktizierer, Landräuber, Zerstörer und Verschwörer“ determiniert wird. Bis auf oberflächliche Variationen gibt es dabei keine signifikanten Unterschiede zwischen Antisemitismen von rechten, linken, muslimischen und Userinnen und Usern der Mitte. Die Schreibenden rekurrieren auf klassische Stereotype der Judenfeindschaft und verwenden homogen judeophobe Argumente, die insgesamt von einer emotionalen Gesinnung bestimmt werden. Es zeigen sich zahlreiche Strategien der Abwehr, Leugnung, Umdeutung und Marginalisierung des gesamtgesellschaftlichen Judenhasses. Die ostentativen Antisemitismen werden dabei im pseudo-politischen Diskurs als „Israelkritik“ und beispielsweise im deutschsprachigen Rap als „Kunst- oder Meinungsfreiheit“ re-klassifiziert, um in Einklang mit der offiziellen Bewertung im Post-Holocaust-Bewusstsein politisch korrekt und sozial angemessen zu erscheinen.

 

Entsprechend werden Antisemitismen vielfach camoufliert kodiert: Nicht die Lexeme „Juden“ und „Judentum“, sondern Substitutionen wie „Israelis“, „Zionismus“, Chiffren wie „Rothschild“, vage Paraphrasen wie „jene einflussreichen Kreise“ oder rhetorische Fragen wie „Warum sind Zionisten böse?“ werden benutzt, um judenfeindliche Semantik zu verbreiten. Die Zunahme der Artikulation von NS-Vergleichen, brachialen Pejorativa – „Unrat, Pest, Krebsgeschwür“ – und Gewaltfantasien im Sinne des eliminatorischen Antisemitismus belegt zugleich aber auch die Tendenz der verbalen Radikalisierung sowie eine deutliche Absenkung der Tabuisierungsschwelle.

 

Die Aufklärungsbemühungen der letzten Jahrzehnte haben in der Gesellschaft nicht flächendeckend gewirkt, und die Thematisierung der Gefahr von diffamierenden und dämonisierenden Sprachgebrauchsmustern haben nicht überall zu einer Sensibilisierung im Umgang mit Antisemitismen geführt.

 

Antisemitismus ist heute in Deutschland immer noch und seit einigen Jahren wieder zunehmend ein höchst besorgniserregendes Phänomen. Politik und Zivilgesellschaft sind gefordert, alles zu tun, diese Büchse der Pandora zu schließen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Monika Schwarz-Friesel
Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin an der TU Berlin.
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