Monika Schwarz-Friesel - 29. März 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Jüdischer Alltag

Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses


Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl im digitalen Zeitalter

In welchen Manifestationen tritt Antisemitismus im 21. Jahrhundert in Erscheinung? Wie, wo und von wem werden judenfeindliche Inhalte artikuliert und verbreitet? Welche Stereotype werden kodiert, welche Argumente benutzt? Welche Rolle spielen Emotionen und irrationale Affektlogik sowie Verschwörungsfantasien beim aktuellen Einstellungs- und Verbalantisemitismus? Inwiefern hat das Internet die Verbreitung und Intensivierung von Antisemitismen beschleunigt und intensiviert? Inwieweit basieren die modernen Ausprägungen des Judenhasses nach wie vor auf der kulturellen Konstante des alten Anti-Judaismus? Erstmalig in der internationalen Forschung hat sich ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt zur Artikulation, Tradierung, Verbreitung und Manifestation von Judenhass im Internet im Rahmen der empirischen Antisemitismusforschung mit diesen Fragen beschäftigt und über sechs Jahre lang quantitativ umfangreiche sowie inhaltlich detaillierte Untersuchungen vorgenommen – siehe Forderungen von Schwarz-Friesel aus den Jahren 2019 und 2020.

 

Weltweit nimmt die Kodierung und Verbreitung von Antisemitismen, insbesondere über das Web 2.0, dramatisch zu. Diese Entwicklung in der virtuellen Welt korreliert in der realen Welt mit judenfeindlichen Übergriffen und Attacken, Drohungen und Beleidigungen sowie dem „neuen Unbehagen“, d. h. einem Gefühl von Furcht und Sorge in den jüdischen Gemeinden Deutschlands und Europas.

 

Dieser gefühlte Eindruck wird nun durch unsere auf breiter empirischer Evidenz basierende Studie wissenschaftlich bestätigt. Sie erfolgte anhand von umfangreichen Korpusstudien, also großen Datenmengen authentischer Texte, da nur diese Methode Aufschluss über den Einstellungsantisemitismus, seine kognitiven Muster und Gefühle sowie seine kommunikativen Tradierungsformen geben kann. Untersucht wurde, welche antisemitischen Inhalte in diversen Bereichen des World Wide Web auf welche Weise zugänglich gemacht und verbreitet werden. Dabei wurden die Antisemitismen in den aktuellen Verbalisierungen den dominanten Stereotypen des klassischen, des Post-Holocaust und israelbezogenen Antisemitismus zugeordnet.

 

Durch die Spezifika der Internetkommunikation wie aktive Netzpartizipation, Schnelligkeit, freie Zugänglichkeit, Multimodalität, Anonymität, globale Verknüpfung und die steigende Relevanz der sozialen Medien als meinungsbildende Informationsquelle in der Gesamtgesellschaft hat die schnelle, ungefilterte und nahezu grenzenlose Verbreitung judenfeindlichen Gedankenguts allein rein quantitativ ein Ausmaß erreicht, das es nie zuvor in der Geschichte gab.

 

Die Digitalisierung der Informations- und Kommunikationstechnologie hat „Antisemitismus 2.0“ online schnell, multi-modal, diffus und rezipientenunspezifisch multiplizierbar gemacht. Jeden Tag werden Tausende neue Antisemitismen gepostet und ergänzen die seit Jahren im Netz gespeicherten und einsehbaren judenfeindlichen Texte, Bilder und Videos. Im Zehn-Jahres-Vergleich hat sich die Anzahl der antisemitischen Online-Kommentare zwischen 2007 und 2018 zum Teil verdreifacht. Es gibt zudem kaum noch einen Diskursbereich im Web 2.0, in dem Nutzerinnen und Nutzer nicht Gefahr laufen, auf antisemitische Texte zu stoßen, auch wenn sie nicht aktiv danach suchen. Das Internet fungiert, insbesondere in den alltäglichen Kommunikationsbereichen der sozialen Medien, als Multiplikator, da es Antisemitismen in großem Ausmaß zugänglich macht, sie auf allen Ebenen des Web 2.0 verbreitet und damit der Normalisierung von Judenhass Vorschub leistet.

 

Unsere Analysen zu Google-Suche und Ratgeber-Portalen zeigen, dass oft mit nur einem Klick nach Eingabe eines Schlagworts wie Jude(n), Judentum, Pessachfest oder Israel Userinnen und User unvorbereitet auf Antisemitismen treffen. Diese bleiben zum Teil jahrelang ungelöscht, z. B. die Frage „Wieso sind Juden immer so böse“ bei Gutefrage.net, die seit 2011 einsehbar ist. Antisemitismen finden sich also keineswegs nur in politisch orientierten oder radikalen Diskursbereichen, sondern vor allem in den viel benutzten Alltagsmedien des Web. Auch unsere Korpus-Studien zu den Kommentaren bezüglich der Solidaritätsaktionen gegen Antisemitismus („Nie wieder Judenhass“ und „Berlin trägt Kippa“) belegen mit zum Teil über 37 Prozent Antisemitismen die Infiltration dieser Kommunikationsstrukturen. Dabei spielen globale Verknüpfungen und multimodale Verlinkungen im Web eine besondere Rolle bei der Tradierung von Antisemitismen. Dass Userinnen und User statt Information und Diskussion Indoktrination erhalten, zeigt sich in allen wesentlichen sozialen Medien, z. B. Twitter, YouTube, Facebook, und auch in so unterschiedlichen Webseiten der Unterhaltungsbranche wie Fanforen, Blogs und Online-Büchershops.

Die aktuellen Manifestationen von Antisemitismus im 21. Jahrhundert basieren kognitiv auf tradierten, zum Teil uralten Stereotypen, und emotional auf dem kollektiven Gefühlswert des Hasses und stellen somit eine moderne Reaktivierung des kulturell verankerten Ressentiments dar. Der israelbezogene Antisemitismus, eine dominante Manifestationsform von aktueller Judenfeindschaft im Web 2.0, folgt dem uralten Adaptionsmuster von Judenhass, diejenige Existenzform des Judentums – in diesem Fall den Staat Israel – negativ zu fokussieren, die opportun diffamiert werden kann. Antisemitismus ist nicht bloß ein Vorurteilssystem, sondern ein Weltdeutungs- und Glaubenssystem, das in den abendländischen Denk- und Gefühlsstrukturen verankert ist.

 

Das Echo der Vergangenheit zeigt sich im Internet besonders deutlich: Der alte Anti-Judaismus mit seiner destruktiven Semantik ist immer noch tief eingebaut im kommunikativen Gedächtnis.

 

Über die Sprachgebrauchsmuster der Abgrenzung und Entwertung werden judenfeindliche Stereotype ständig reproduziert und bleiben damit im kollektiven Bewusstsein. Auch die Erfahrung des Holocaust hat diese Tradition nicht gebrochen. Klassische Stereotype der Judenfeindschaft prägen mit über 54,02 Prozent maßgeblich den Antisemitismus 2.0. Zu konstatieren ist, dass Juden- und Israelhass dabei eine konzeptuelle Symbiose bilden, die maßgeblich vom Kollektiv-Konzept des „Ewigen Juden“ mit seinen über Jahrhunderte hinweg konstruierten Merkmalen „Juden als Fremde/Andere/Böse, als Wucherer, Ausbeuter und Geldmenschen, als rachsüchtige Intriganten und Machtmenschen, Mörder, Ritual- und Blutkultpraktizierer, Landräuber, Zerstörer und Verschwörer“ determiniert wird. Bis auf oberflächliche Variationen gibt es dabei keine signifikanten Unterschiede zwischen Antisemitismen von rechten, linken, muslimischen und Userinnen und Usern der Mitte. Die Schreibenden rekurrieren auf klassische Stereotype der Judenfeindschaft und verwenden homogen judeophobe Argumente, die insgesamt von einer emotionalen Gesinnung bestimmt werden. Es zeigen sich zahlreiche Strategien der Abwehr, Leugnung, Umdeutung und Marginalisierung des gesamtgesellschaftlichen Judenhasses. Die ostentativen Antisemitismen werden dabei im pseudo-politischen Diskurs als „Israelkritik“ und beispielsweise im deutschsprachigen Rap als „Kunst- oder Meinungsfreiheit“ re-klassifiziert, um in Einklang mit der offiziellen Bewertung im Post-Holocaust-Bewusstsein politisch korrekt und sozial angemessen zu erscheinen.

 

Entsprechend werden Antisemitismen vielfach camoufliert kodiert: Nicht die Lexeme „Juden“ und „Judentum“, sondern Substitutionen wie „Israelis“, „Zionismus“, Chiffren wie „Rothschild“, vage Paraphrasen wie „jene einflussreichen Kreise“ oder rhetorische Fragen wie „Warum sind Zionisten böse?“ werden benutzt, um judenfeindliche Semantik zu verbreiten. Die Zunahme der Artikulation von NS-Vergleichen, brachialen Pejorativa – „Unrat, Pest, Krebsgeschwür“ – und Gewaltfantasien im Sinne des eliminatorischen Antisemitismus belegt zugleich aber auch die Tendenz der verbalen Radikalisierung sowie eine deutliche Absenkung der Tabuisierungsschwelle.

 

Die Aufklärungsbemühungen der letzten Jahrzehnte haben in der Gesellschaft nicht flächendeckend gewirkt, und die Thematisierung der Gefahr von diffamierenden und dämonisierenden Sprachgebrauchsmustern haben nicht überall zu einer Sensibilisierung im Umgang mit Antisemitismen geführt.

 

Antisemitismus ist heute in Deutschland immer noch und seit einigen Jahren wieder zunehmend ein höchst besorgniserregendes Phänomen. Politik und Zivilgesellschaft sind gefordert, alles zu tun, diese Büchse der Pandora zu schließen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.


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