Der mit dem Seziermesser

Zum 20. Todestag des iranischen Drehbuchautors und Regisseurs Sohrab Shahid Saless

„Reichlich Schmutz quoll 187 Minuten lang aus dem Bildschirm: ‚Utopia‘, eine anödende Story aus dem Bordell-Milieu.“ Der Kritiker der „Hörzu“ verhehlt anlässlich der Fernseh-Erstausstrahlung von „Utopia“ im Sommer 1984 nicht, was er von Sohrab Shahid Salessʼ Film hält. Konträr äußert sich ein Autor der „Zeit“: „Mit dem Blick eines Mikrobenforschers hält er Leichenschau am Lebenden. Ohne zu psychologisieren, nur mit dem Mittel der Verlangsamung, der stereotypen Wiederholung, erklärt Saless seine Figuren, beschwört er eine Atmosphäre qualvollen Abgestorbenseins mitten im Leben.“

 

Was für einen Film hat der iranische Regisseur gedreht, der von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Fernsehspiel 1984 gekürt wird? „Utopia“ lässt wiederholt den tristen Alltag in einem fast hermetisch abgeriegelten Bordell ablaufen. Hier herrscht Heinz. Schick und den Schnurrbart akkurat gekämmt, spioniert der Zuhälter die fünf Frauen aus, droht, wenn sie nicht kuschen, schlägt sie und bläut ihnen ein, worum es ihm geht: nur ums Geschäft. Das verinnerlichen sie – ebenso, dass sich ihre Lage nicht ändern würde, auch wenn sie am Ende den Aufstand wagen. „Utopia“, Salessʼ wohl bedeutendster Film, seziert wie Pier Paolo Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ (1975) gesellschaftliche Strukturen und offenbart, wie kalt und brutal Macht ausgeübt werden kann.

 

Am 2. Juli 2018 jährt sich Salessʼ Todestag zum 20. Mal und es ist mehr als überfällig, dass sein Leben und Werk (wieder) in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit treten. Zwar finden ihm zu Ehren seit einigen Jahren Retrospektiven im In- und Ausland statt, doch werden seine Filme weder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt, noch sind sie im üblichen Handel zu kaufen.

 

Dabei ist die Beschäftigung mit Saless ein Gewinn: Sein Leben und Werk sind ein frühes Beispiel dafür, was heute mit den Schlagworten Integration und Transkulturalität bezeichnet wird. Saless pendelt zwischen mehreren Sprachen, Kulturen und politischen Systemen und steht exemplarisch für die Künstler aus Nahost, die ihr Land aufgrund bestimmter politischer Entwicklungen Richtung Westen verlassen, um ihre Arbeit hier fortzusetzen. Saless ist ein Impulsgeber der „neuen iranischen Welle“, die in den 1960er Jahren entsteht und den Autorenfilm im Land bis heute prägt. Er ist aber auch Teil des „Neuen deutschen Films“ und hat Anhänger unter Regisseuren wie Romuald Karmakar.

 

Von Außenseitern und Unsichtbaren

 

Am 28. Juni 1944 in Teheran in eine bürgerliche Familie hineingeboren, verlässt Saless nach dem Abitur den Iran. Er zieht nach Wien, wo er Deutsch lernt, Film studiert und sich als Treppen- und Fensterputzer verdingt. Hier erkrankt er an Tuberkulose, wird behandelt und erneut krank. Danach studiert er in Paris, erleidet einen Magendurchbruch und wird erfolgreich operiert. 1968 kehrt er in den Iran zurück, wo er 20 Dokumentar- und zwei Kurzfilme für das Kulturministerium dreht.

 

1973 und 1974 dreht er seine einzigen im Iran realisierten Spielfilme: „Ein einfaches Ereignis“ und „Stillleben“. Das Debüt zeigt den Alltag eines zehnjährigen Jungen, der in einfachen Verhältnissen am Kaspischen Meer lebt. Der kränklichen Mutter hilft er zu Hause, dem trinkenden Vater beim illegalen Fischen. Er geht in die Schule, lernt aber nicht. Als die Mutter stirbt, geht das Leben einfach weiter.

 

Für „Ein einfaches Ereignis“ erhält Saless 1973 auf dem Internationalen Teheraner Filmfestival den Preis für die beste Regie, für „Stillleben“ 1974 den Silbernen Bären der Berlinale. Darin geht es um einen Bahnwärter, der täglich nichts anderes tut, als auf einen Zug zu warten. Und auch er und seine Frau führen ein karges Leben. Als ein Brief eintrifft, der seine Verrentung ankündigt, verzweifelt er.

 

Was beide Filme auszeichnet, ist die genaue Beobachtung des harten Lebens der unteren Schichten im Iran. Saless versteht es, Inhalt und Form so zu verschränken, dass ein unverwechselbarer Stil entsteht – geprägt von langen, ruhigen Einstellungen, Wiederholungen, Stille und der Konzentration auf die Darsteller, die Nötigstes sprechen. Ihre Blicke, ihre Gestik und Mimik sind aussagekräftiger.

 

Bei Saless erhält das Alltägliche etwas Magisches. Das Einfache, Stille und Immer-Gleiche erzielt eine Sogwirkung und gibt den Zuschauern Raum für Gedanken, das eigene Leben und Handeln zu reflektieren. Diese Erzähltechnik erlaubt es Saless aber zuvörderst, das Leben der Menschen in der Moderne, das von Außenseitern, von Unsichtbaren, die nicht zu Wort kommen, in ihrer Einsamkeit und Traurigkeit, Stummheit und Isoliertheit zu zeigen, aus der ein Entkommen unmöglich scheint.

 

Beeinflusst ist dieser Stil zum einen von Salessʼ großem Vorbild Anton Pawlowitsch Tschechow: „Ich bemühe mich sehr, so zu filmen, wie er geschrieben hat“, sagt er 1974 zu einem Journalisten. Zum anderen ist Saless geprägt vom europäischen Kino nach 1945. Die Arbeiten von Robert Bresson und François Truffaut, Jean-Pierre Melville und Roman Polański haben Spuren in seinen Filmen hinterlassen.

Behrang Samsami
Behrang Samsami ist promovierter Germanist, freier Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Gemeinsam mit Bert Schmidt, dem langjährigen Regieassistenten von Sohrab Shahid Saless, arbeitet er an einem Buch über das Leben und Werk des Filmemachers.
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