Bürgerschaftliches Engagement in Europa ist also längst nicht mehr per se als gut anzusehen. Die Werte der EU, wie sie in den Verträgen verankert sind, Menschenwürde, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten, sie gelten nur noch in Teilen dieser auseinanderdriftenden Union. Das macht sich nicht nur an der Unfähigkeit fest, eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik im Einklang mit dem internationalen Recht zu vereinbaren.
Die EU findet bis dato keine adäquate Antwort auf diese Entwicklungen. Vielleicht sind sie schon zu weit fortgeschritten, weil es eben längst nicht mehr nur um Ungarn geht. Dies zeigt sich exemplarisch am Unvermögen, die Fördermittel der künftigen EU-Haushalte an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, nach Grundsätzen, wie sie im politischen Westen festgelegt wurden, zu binden und auch entsprechende Auflagen für den Corona-Aufbaufonds vorzusehen. Das Ausbleiben wirksamer Anreize und Sanktionen wird die zivilgesellschaftlichen Strukturen in den betroffenen Staaten immer mehr aushöhlen.
Diese weit fortgeschrittenen Entwicklungen sind aufs Engste mit Fragen der geschichtlichen Erfahrung und der politischen Kultur verbunden, sie sind pfad- und kontextabhängig. Dass Ungarn mit seinem unverarbeiteten Trianon-Trauma unter dem Stress des Transformationsprozesses als Erstes fiel, verwundert nicht.
Die Tatsache, dass Großbritannien von einem populistischen Demagogen regiert wird und aus der EU geführt wurde und die USA kein Leuchtfeuer der Freiheit mehr sind, aber auch die gesellschaftliche Unruhe in Deutschland, Frankreich und Italien zeigen, dass die autoritäre Versuchung gewiss kein auf Osteuropa beschränktes Phänomen ist. Es gärt überall in Europa.
Wie sollte die Zivilgesellschaft von alledem unberührt bleiben? Die beschriebene Entwicklung in Europa und die Zukunft der europäischen Zivilgesellschaft sind in größere politische Ordnungszusammenhänge eingebettet wie etwa den der sich in atemberaubendem Tempo auflösenden Pax Americana. Wenn sich europäische Staats- und Regierungschefs fasziniert vom chinesischen Entwicklungsmodell zeigen und die Methoden der russischen Führung als nachahmenswert ansehen, kann es nicht ausbleiben, dass auch bürgerschaftliches Engagement in den Sog einer neuen Zeit gerät, eine gänzlich neue Orientierung erfährt.
Die Anhänger des ungarischen Fidesz oder der polnischen PiS argumentieren, sie verträten die europäische Kultur gegen eine dekadente Zivilisation, als deren Vertreter sie Verfechter von Feminismus und Chancengleichheit für sexuelle Minderheiten, bedarfsweise aber auch die deutsche Bundeskanzlerin oder das „internationale Judentum“ ausmachen. Während des Europawahlkampfs 2019 konnte Viktor Orbáns Partei ungestraft Plakate mit eindeutig antisemitischen Motiven aufstellen, die den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und den amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros verunglimpften.
Gibt es noch Hoffnung? Nicht wenig wird vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA abhängen und der Frage, ob eine neue transatlantische Partnerschaft möglich wird. Eine wieder größere Hinwendung Amerikas zu Europa wäre überlebenswichtig. Allerdings müsste das zutiefst gespaltene Amerika sich zunächst selbst wiederfinden. Unabhängig vom Ergebnis der Präsidentschaftswahlen macht eine stärkere Verbindung der freiheitlich ausgerichteten Zivilgesellschaft beiderseits des Atlantiks Sinn, um die Resilienz wider den Autoritarismus zu stärken. Dass die Eliten dieser Zivilgesellschaft dabei wieder mehr Nähe zu den einfachen Menschen finden müssen, ist eine weitere essenzielle Voraussetzung für das Überleben der offenen Gesellschaft.
Die Europäer allein können es angesichts der Vielzahl bereits aus der Balance geratener Gesellschaften und der tektonischen Verschiebungen in der Welt des 21. Jahrhunderts kaum noch schaffen. Es sei denn, den westlichen Werten verbundene zivilgesellschaftliche Kräfte sammelten sich und errichteten durch ihr Engagement in Vereinen und Verbänden, aber auch in den demokratischen Parteien, in Gewerkschaften und sonstigen Strukturen der organisierten Zivilgesellschaft beiderseits des Atlantiks einen Damm gegen die Kräfte der Verneinung. Voraussetzung dafür ist gewiss, dass die Zivilgesellschaft sich zunächst selbst erkennt, dass sie noch weiß, wer sie überhaupt ist, wo ihre Wurzeln liegen und dass sie ihr Sosein nicht als selbstverständlich annimmt. Denn das wäre ein fataler Irrtum.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.