Herausforderung und Chance

Zehn Thesen zu den Herausforderungen für Zivilgesellschaft und Engagement

Die Coronakrise ist die Spitze eines Eisbergs. Wir befinden uns in einem gewaltigen Umbruch und müssen lernen, damit umzugehen. Aus der Perspektive der Zivilgesellschaft bedeutet dies eine große Herausforderung, bietet aber auch die Chance, ihre Relevanz deutlich zu machen. In zehn Thesen soll dies im Folgenden dargestellt werden.

 

1. These: Zivilgesellschaft ist nicht nett, sondern wichtig.
Das gilt ganz allgemein. Unsere Politik neigt dazu, Zivilgesellschaft als Freizeitbeschäftigung, als mal störendes, mal nett zu habendes Zusätzliches zu sehen, allenfalls in Teilen als etwas Nützliches. Das stimmt aber nicht. Zivilgesellschaft ist wichtig. Ohne Zivilgesellschaft ist eine offene, eine kosmopolitische, eine gesunde Gesellschaft nicht zu haben. Eine Identität und Loyalität, die sich nur an der Nation oder ähnlichen Begriffen festmacht, ist zum Scheitern verurteilt. Ohne Zivilgesellschaft gab es keinen Mauerfall; ohne sie wird es eine künftige politische Ordnung nicht geben.

 

2. These: Wir müssen der Stimme der Zivilgesellschaft im öffentlichen Raum mehr Gehör verschaffen.
Die Lufthansa hat in der Coronakrise geschrien und neun Milliarden Euro Staatshilfe bekommen. Die Zivilgesellschaft hat geflüstert, der Deutsche Kulturrat vielleicht noch am deutlichsten und am lautesten. Insgesamt war die Zivilgesellschaft schwer zu hören. Es gab wenige Stimmen, wenig Aufschrei. Auch nicht – und es ging ja nicht nur um Geld – um zu zeigen, was Zivilgesellschaft beitragen, was sie gerade in der Krise bieten kann. Sich Gehör zu verschaffen, geht freilich nur, wenn jeder weiß, was Zivilgesellschaft ist. Wenn jede Diskussion durch den Einwurf unterbrochen wird – „für mich ist Zivilgesellschaft etwas ganz anderes“ – nimmt sie in der Hauptsache keine Fahrt auf.

 

3. These: Bürgerschaftliches Engagement ist das Alleinstellungsmerkmal der Zivilgesellschaft.
Hier finden 80 Prozent des bürgerschaftlichen Engagements statt. Die Freiwilligen Feuerwehren sind dabei nicht mitgerechnet, weil sie kommunale Körperschaften sind. Es geht aber nicht nur um Statistik, sondern auch darum, dass nur in der Zivilgesellschaft bürgerschaftliches Engagement ein zentrales Element darstellt. Der Staat könnte wohl ohne ehrenamtliche Schöffen, die Wirtschaft ohne ehrenamtliche Betriebsräte existieren, die Zivilgesellschaft ohne die „Ehrenamtlichen“ nicht. Sie ist die Arena des bürgerschaftlichen Engagements.

 

4. These: Bürgerschaftliches Engagement ist ein Geschenk an die Gesellschaft.
Es wird erbracht von mindestens 20 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland und gerade auch von zahlreichen Menschen aus anderen Kulturen, Migranten und Flüchtlingen. Bürgerschaftliches Engagement ist nicht selten das Integrationsvehikel schlechthin. Es ebnet den Weg in die Arbeitswelt; es ebnet den Weg in die Inklusion, denn wer sich irgendwo engagieren kann, wird von den Mitengagierten akzeptiert. Das geschieht in den 800.000 zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr als irgendwo sonst.

 

5. These: Schenken ist eine anthropologische Konstante und gehört zu jeder Kultur.
Prosoziales Verhalten ist im Menschen angelegt, übrigens nicht nur im Menschen – auch die Affen schenken sich etwas. Zum Menschen gehört es in jeder Kultur dazu. Dieses anthropologisch konstante Angebot müssen wir ernst nehmen. Der Kapitalismus hat versucht, es zu verdrängen, obwohl dessen Schöpfer Adam Smith das so bestimmt nicht gemeint hat. Er spricht sehr entschieden von der Empathie, die Menschen naturgemäß füreinander empfinden, und davon, wie wichtig diese für die Gesellschaft ist. Aber es hat sich Zynismus breitgemacht und das Engagement an den Rand gedrängt – bis hin zu Behauptungen, eigentlich könne man doch alles und jedes über den Markt abwickeln. Nein, das kann man nicht, so wichtig ein funktionierender Markt für viele Bereiche
ist.

 

6. These: Jede Gesellschaft braucht dieses Geschenk.
Das Geschenk gibt es wirklich, es wird aber auch gebraucht. Bekommt die Gesellschaft dieses Geschenk nicht, verelendet sie. Eine Gesellschaft, in der nur noch über Befehl und Gehorsam oder nur mehr über Tausch gelebt wird, verelendet unrettbar. Das haben wir in Teilen im Sozialismus erlebt, ebenso, historisch, an anderen Stellen. Selbstermächtigung, Selbstorganisation, Freiwilligkeit, Gemeinsinn, das Schenken von Empathie, von Zeit, von materiellen Ressourcen, von Know-how. All das ist für eine Gesellschaft überlebenswichtig.

Rupert Graf Strachwitz
Rupert Graf Strachwitz ist Politikwissenschaftler und leitet das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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