Christian Moos - 2. November 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Bürgerschaftliches Engagement

Wissen wir noch, wer wir sind?


Zivilgesellschaft in Europa anno 2020

Die Zivilgesellschaft, wie sie bisher in Europa verstanden wurde, ist Teil eines Demokratieverständnisses, das nicht mehr selbstverständlich ist. Das Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, bewegte sich im Gravitationsfeld eines gutmütigen Hegemonen, der Vereinigten Staaten von Amerika. Von den atlantischen Revolutionen über Wilsons Idealismus bis zur Atlantik-Charta und Roosevelts Vereinten Nationen: Ohne es hinsichtlich seiner tatsächlichen Verwirklichung in der amerikanischen Innen- und Außenpolitik verklären zu wollen, war das Ideal einer offenen Gesellschaft für die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen im Nachkriegseuropa prägend und der amerikanische Einfluss entsprechend groß.

 

Die USA hatten nach 1945 maßgeblichen Anteil am demokratischen Wiederaufbau, an der Durchsetzung einer offenen Gesellschaft und an der Förderung demokratischer Parteien und zivilgesellschaftlicher Strukturen in Westeuropa. Heute sprechen selbst Verteidiger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nur noch ungern und eigentümlich verschämt von den westlichen Werten, die dem amerikanischen Einsatz in und für Europa neben legitimen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen zugrunde lagen.

 

Spätestens seit 9/11 ist das westliche Gravitationsfeld immer schwächer geworden, und die nach 1990 erhebliche amerikanische Unterstützung der jungen Demokratien in Mittelosteuropa und der für deren Bestand unverzichtbaren zivilgesellschaftlichen Strukturen hat seit der Weltfinanzkrise immer mehr nachgelassen. Es gibt eine frappierend hohe Korrelation zwischen der Abkehr der USA von Europa, das im asiatischen Jahrhundert an die Peripherie eines neuen globalen Ringens rückt, und der auf dem alten Kontinent und in seinem Nahfeld um sich greifenden Instabilität. Die gesamteuropäische Zivilgesellschaft bleibt von diesem säkularen Geschehen nicht unberührt, zumal ein revisionistisches Russland und das zu imperialer Größe aufsteigende China sowie auf dem Balkan auch die Türkei das in Europa entstandene Vakuum bereits mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und gänzlich anderen Gesellschaftsentwürfen füllen.

 

Die Krisenwellen, die Europa seit der Jahrhundertwende treffen, haben das Wertefundament aufgeweicht, auf dem die Europäische Union errichtet wurde, und es wird immer deutlicher, dass es Alternativangebote für die politische und die gesellschaftliche Ordnung gibt, die teils altbekannten Mustern folgen, teils und unter den Bedingungen einer digitalisierten Welt etwas Neues darstellen.

 

Das Bewusstsein, dass das freiheitliche Gesellschaftsmodell alles andere als selbstverständlich ist, dringt nur allmählich durch. Die Kräfte der Verneinung sind vielerorts bereits an der Macht. Sie haben damit begonnen, die Werte umzuwerten, auf denen die EU errichtet wurde und deren Anerkennung auch Voraussetzung zum Beitritt in diese westliche Wertegemeinschaft war.

 

Der jüngst veröffentlichte erste Rechtsstaatsbericht der Europäischen Kommission deckt sich mit den Befunden des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), in dem eine unter erheblichem Druck stehende Gruppe in den vergangenen zwei Jahren Länderberichte zur Lage von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit anfertigte. Inzwischen arbeitet aber auch im EWSA eine größer werdende Minderheit „zivilgesellschaftlicher“ Vertreter an einer Umwertung bisher unstrittiger europäischer Werte. Diese Entwicklung ist das Spiegelbild einer neuen Wirklichkeit: In weiten Teilen Europas gibt es den Westen als politisches Wertesystem bereits nicht mehr.

 

Stattdessen gibt es heute im EWSA hochrangige Repräsentanten der organisierten Zivilgesellschaft etwa aus Polen, die das Rechtsstaatsverständnis der regierenden Partei für Recht und Gerechtigkeit selbstbewusst verteidigen. Der bürgerschaftliche Einsatz für ökonomisch benachteiligte Menschen oder karitatives Engagement kann durchaus mit einer Vorliebe für autoritäre Herrschaft und patriarchalische Strukturen vereinbar sein, wie die neue Wirklichkeit in Europa beweist.
Die Übernahme von Institutionen durch illiberale Demokraten und ihre zivilgesellschaftliche Gefolgschaft ist eine Spätphase im Sterben der westlichen Demokratie. Ein weit verbreitetes Virus, das die Abwehrkräfte nachhaltig schwächt, ist die Korruption, die Staaten wie etwa Bulgarien längst zu „failed states“ macht. In der EU, so die bittere Erkenntnis, gibt es gescheiterte Staaten.

 

Die Umwertung der Werte ist das eigentliche Einfallstor, die Voraussetzung für die Unterwanderung und schließlich Übernahme der Institutionen. Diese Umwertung der Werte findet auch in Kontexten statt, die ihrer äußeren Form nach dem ähneln, was nach westlichem Verständnis Zivilgesellschaft sein sollte, in Wahrheit aber nicht ist. Aus Sicht derjenigen, die noch am westlichen Konzept der „civil society“ festhalten, muss diese Form bürgerschaftlichen Engagements als „uncivil society“ bezeichnet werden.

 


Bürgerschaftliches Engagement in Europa ist also längst nicht mehr per se als gut anzusehen. Die Werte der EU, wie sie in den Verträgen verankert sind, Menschenwürde, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten, sie gelten nur noch in Teilen dieser auseinanderdriftenden Union. Das macht sich nicht nur an der Unfähigkeit fest, eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik im Einklang mit dem internationalen Recht zu vereinbaren.

 

Die EU findet bis dato keine adäquate Antwort auf diese Entwicklungen. Vielleicht sind sie schon zu weit fortgeschritten, weil es eben längst nicht mehr nur um Ungarn geht. Dies zeigt sich exemplarisch am Unvermögen, die Fördermittel der künftigen EU-Haushalte an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, nach Grundsätzen, wie sie im politischen Westen festgelegt wurden, zu binden und auch entsprechende Auflagen für den Corona-Aufbaufonds vorzusehen. Das Ausbleiben wirksamer Anreize und Sanktionen wird die zivilgesellschaftlichen Strukturen in den betroffenen Staaten immer mehr aushöhlen.

 

Diese weit fortgeschrittenen Entwicklungen sind aufs Engste mit Fragen der geschichtlichen Erfahrung und der politischen Kultur verbunden, sie sind pfad- und kontextabhängig. Dass Ungarn mit seinem unverarbeiteten Trianon-Trauma unter dem Stress des Transformationsprozesses als Erstes fiel, verwundert nicht.

 

Die Tatsache, dass Großbritannien von einem populistischen Demagogen regiert wird und aus der EU geführt wurde und die USA kein Leuchtfeuer der Freiheit mehr sind, aber auch die gesellschaftliche Unruhe in Deutschland, Frankreich und Italien zeigen, dass die autoritäre Versuchung gewiss kein auf Osteuropa beschränktes Phänomen ist. Es gärt überall in Europa.

 

Wie sollte die Zivilgesellschaft von alledem unberührt bleiben? Die beschriebene Entwicklung in Europa und die Zukunft der europäischen Zivilgesellschaft sind in größere politische Ordnungszusammenhänge eingebettet wie etwa den der sich in atemberaubendem Tempo auflösenden Pax Americana. Wenn sich europäische Staats- und Regierungschefs fasziniert vom chinesischen Entwicklungsmodell zeigen und die Methoden der russischen Führung als nachahmenswert ansehen, kann es nicht ausbleiben, dass auch bürgerschaftliches Engagement in den Sog einer neuen Zeit gerät, eine gänzlich neue Orientierung erfährt.

 

Die Anhänger des ungarischen Fidesz oder der polnischen PiS argumentieren, sie verträten die europäische Kultur gegen eine dekadente Zivilisation, als deren Vertreter sie Verfechter von Feminismus und Chancengleichheit für sexuelle Minderheiten, bedarfsweise aber auch die deutsche Bundeskanzlerin oder das „internationale Judentum“ ausmachen. Während des Europawahlkampfs 2019 konnte Viktor Orbáns Partei ungestraft Plakate mit eindeutig antisemitischen Motiven aufstellen, die den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und den amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros verunglimpften.

 

Gibt es noch Hoffnung? Nicht wenig wird vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA abhängen und der Frage, ob eine neue transatlantische Partnerschaft möglich wird. Eine wieder größere Hinwendung Amerikas zu Europa wäre überlebenswichtig. Allerdings müsste das zutiefst gespaltene Amerika sich zunächst selbst wiederfinden. Unabhängig vom Ergebnis der Präsidentschaftswahlen macht eine stärkere Verbindung der freiheitlich ausgerichteten Zivilgesellschaft beiderseits des Atlantiks Sinn, um die Resilienz wider den Autoritarismus zu stärken. Dass die Eliten dieser Zivilgesellschaft dabei wieder mehr Nähe zu den einfachen Menschen finden müssen, ist eine weitere essenzielle Voraussetzung für das Überleben der offenen Gesellschaft.

 

Die Europäer allein können es angesichts der Vielzahl bereits aus der Balance geratener Gesellschaften und der tektonischen Verschiebungen in der Welt des 21. Jahrhunderts kaum noch schaffen. Es sei denn, den westlichen Werten verbundene zivilgesellschaftliche Kräfte sammelten sich und errichteten durch ihr Engagement in Vereinen und Verbänden, aber auch in den demokratischen Parteien, in Gewerkschaften und sonstigen Strukturen der organisierten Zivilgesellschaft beiderseits des Atlantiks einen Damm gegen die Kräfte der Verneinung. Voraussetzung dafür ist gewiss, dass die Zivilgesellschaft sich zunächst selbst erkennt, dass sie noch weiß, wer sie überhaupt ist, wo ihre Wurzeln liegen und dass sie ihr Sosein nicht als selbstverständlich annimmt. Denn das wäre ein fataler Irrtum.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.


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