Rupert Graf Strachwitz - 2. November 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Bürgerschaftliches Engagement

Herausforderung und Chance


Zehn Thesen zu den Herausforderungen für Zivilgesellschaft und Engagement

Die Coronakrise ist die Spitze eines Eisbergs. Wir befinden uns in einem gewaltigen Umbruch und müssen lernen, damit umzugehen. Aus der Perspektive der Zivilgesellschaft bedeutet dies eine große Herausforderung, bietet aber auch die Chance, ihre Relevanz deutlich zu machen. In zehn Thesen soll dies im Folgenden dargestellt werden.

 

1. These: Zivilgesellschaft ist nicht nett, sondern wichtig.
Das gilt ganz allgemein. Unsere Politik neigt dazu, Zivilgesellschaft als Freizeitbeschäftigung, als mal störendes, mal nett zu habendes Zusätzliches zu sehen, allenfalls in Teilen als etwas Nützliches. Das stimmt aber nicht. Zivilgesellschaft ist wichtig. Ohne Zivilgesellschaft ist eine offene, eine kosmopolitische, eine gesunde Gesellschaft nicht zu haben. Eine Identität und Loyalität, die sich nur an der Nation oder ähnlichen Begriffen festmacht, ist zum Scheitern verurteilt. Ohne Zivilgesellschaft gab es keinen Mauerfall; ohne sie wird es eine künftige politische Ordnung nicht geben.

 

2. These: Wir müssen der Stimme der Zivilgesellschaft im öffentlichen Raum mehr Gehör verschaffen.
Die Lufthansa hat in der Coronakrise geschrien und neun Milliarden Euro Staatshilfe bekommen. Die Zivilgesellschaft hat geflüstert, der Deutsche Kulturrat vielleicht noch am deutlichsten und am lautesten. Insgesamt war die Zivilgesellschaft schwer zu hören. Es gab wenige Stimmen, wenig Aufschrei. Auch nicht – und es ging ja nicht nur um Geld – um zu zeigen, was Zivilgesellschaft beitragen, was sie gerade in der Krise bieten kann. Sich Gehör zu verschaffen, geht freilich nur, wenn jeder weiß, was Zivilgesellschaft ist. Wenn jede Diskussion durch den Einwurf unterbrochen wird – „für mich ist Zivilgesellschaft etwas ganz anderes“ – nimmt sie in der Hauptsache keine Fahrt auf.

 

3. These: Bürgerschaftliches Engagement ist das Alleinstellungsmerkmal der Zivilgesellschaft.
Hier finden 80 Prozent des bürgerschaftlichen Engagements statt. Die Freiwilligen Feuerwehren sind dabei nicht mitgerechnet, weil sie kommunale Körperschaften sind. Es geht aber nicht nur um Statistik, sondern auch darum, dass nur in der Zivilgesellschaft bürgerschaftliches Engagement ein zentrales Element darstellt. Der Staat könnte wohl ohne ehrenamtliche Schöffen, die Wirtschaft ohne ehrenamtliche Betriebsräte existieren, die Zivilgesellschaft ohne die „Ehrenamtlichen“ nicht. Sie ist die Arena des bürgerschaftlichen Engagements.

 

4. These: Bürgerschaftliches Engagement ist ein Geschenk an die Gesellschaft.
Es wird erbracht von mindestens 20 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland und gerade auch von zahlreichen Menschen aus anderen Kulturen, Migranten und Flüchtlingen. Bürgerschaftliches Engagement ist nicht selten das Integrationsvehikel schlechthin. Es ebnet den Weg in die Arbeitswelt; es ebnet den Weg in die Inklusion, denn wer sich irgendwo engagieren kann, wird von den Mitengagierten akzeptiert. Das geschieht in den 800.000 zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr als irgendwo sonst.

 

5. These: Schenken ist eine anthropologische Konstante und gehört zu jeder Kultur.
Prosoziales Verhalten ist im Menschen angelegt, übrigens nicht nur im Menschen – auch die Affen schenken sich etwas. Zum Menschen gehört es in jeder Kultur dazu. Dieses anthropologisch konstante Angebot müssen wir ernst nehmen. Der Kapitalismus hat versucht, es zu verdrängen, obwohl dessen Schöpfer Adam Smith das so bestimmt nicht gemeint hat. Er spricht sehr entschieden von der Empathie, die Menschen naturgemäß füreinander empfinden, und davon, wie wichtig diese für die Gesellschaft ist. Aber es hat sich Zynismus breitgemacht und das Engagement an den Rand gedrängt – bis hin zu Behauptungen, eigentlich könne man doch alles und jedes über den Markt abwickeln. Nein, das kann man nicht, so wichtig ein funktionierender Markt für viele Bereiche
ist.

 

6. These: Jede Gesellschaft braucht dieses Geschenk.
Das Geschenk gibt es wirklich, es wird aber auch gebraucht. Bekommt die Gesellschaft dieses Geschenk nicht, verelendet sie. Eine Gesellschaft, in der nur noch über Befehl und Gehorsam oder nur mehr über Tausch gelebt wird, verelendet unrettbar. Das haben wir in Teilen im Sozialismus erlebt, ebenso, historisch, an anderen Stellen. Selbstermächtigung, Selbstorganisation, Freiwilligkeit, Gemeinsinn, das Schenken von Empathie, von Zeit, von materiellen Ressourcen, von Know-how. All das ist für eine Gesellschaft überlebenswichtig.

7. These: In und nach Corona brauchen wir Geschenke an die Zivilgesellschaft und Geschenke der Zivilgesellschaft mehr denn je.
Es mag überraschen: Die Geschenke werden an vier Stellen gebraucht. Jeder denkt zunächst an den Rettungsdienst, den Krankentransport, an die vielen Dienstleistungen, natürlich auch die kultureller Art. Das ist nicht falsch. Aber gebraucht wird die ganze Zivilgesellschaft und wird das Engagement noch dringender in anderer Hinsicht. Vier Aufgaben sind zu nennen:

 

An erster Stelle steht die Gemeinschaftsbildung. Gemeinschaften sind durch den Shutdown zerbrochen und zerbrechen weiter. Es kann und wird nicht die Aufgabe staatlicher Stellen sein, diese wiederherzustellen. Dazu sind diese auch nicht in der Lage. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen das auffangen. Das reicht von den Chören und Orchestern, der Laienmusik und dem Laientheater ganz allgemein bis zu allen möglichen anderen Gemeinschaften, natürlich auch bis zum Sport. Diese freiwilligen Gemeinschaften – „communities of choice“, die Gemeinschaften durch eigene Wahl – sind für unsere Gesellschaft das tragende Fundament überhaupt. Deshalb brauchen wir diese Geschenke der Gemeinschaftsbildung. Sie kann sich im Karnevalsverein abspielen, im Schützenverein, Sportverein oder Kulturverein. Entscheidend ist das Zusammenkommen.

 

Ebenso wichtig ist die Wächteraufgabe. Die Zivilgesellschaft ist aufgerufen, darüber zu wachen, dass Freiheitsrechte nicht beeinträchtigt werden. Die Zivilgesellschaft und die dort bürgerschaftlich Engagierten müssen aufpassen, dass die Mechanismen der Demokratie nicht verkümmern. Das ist für die traditionelle parlamentarische Demokratie in sich inzwischen außerordentlich schwierig geworden. Hier muss die Zivilgesellschaft eintreten, nicht zuletzt um Minderheiten zu schützen.

 

Zivilgesellschaft muss drittens als Anwältin für Bürgerrechte und für Menschen in Not sein. Interessanterweise sind große alte Dienstleistungsorganisationen der Zivilgesellschaft, die Wohlfahrtsverbände beispielsweise, heute verstärkt unterwegs, sich als Anwälte ihrer Betreuten zu empfinden. Das ist eine große Aufgabe.

 

Die vierte Aufgabe ist die politische Mitgestaltung. Wir in der Zivilgesellschaft sind unglücklich über Versuche von Behörden und Gerichten, diese Mitgestaltung zu beschneiden, zu schwächen, an den Rand zu drängen. Die Zivilgesellschaft darf sich das nicht gefallen lassen. Sie muss und will politisch mitgestalten. Sie bildet den Kern der deliberativen Demokratie.

 

8. These: Zivilgesellschaft muss sich aktiv einbringen.
Sie darf nicht warten, bis sie gebeten wird, sondern muss selbst tätig werden. Das hat sie auch gelernt, das hat sie drauf. Dazu ist sie da. Sie muss sich einbringen, um an der schwierigen Abwägung zwischen Freiheit und Ordnung mitzuwirken. Das ist schwierig und ist in der Krise nicht leichter geworden. Der Weg aus der Krise führt auch über diese Abwägung! Wo geht es um Freiheit und wo geht es um klare Notwendigkeiten der Regelung?

 

Wer hätte sich noch vor Kurzem träumen lassen, dass Menschen auftreten und für ein Freiheitsrecht, die Versammlungsfreiheit, eintreten, mit denen man um nichts in der Welt etwas zu tun haben will. Dass das so weit auseinandergeht, dass so problematische Situationen entstehen, zeigt, dass sich die Gesellschaft damit auseinandersetzen muss – die Öffentlichkeit, die Bürgerinnen und Bürger, nicht nur Regierungen, Parlamente und Gerichte. Der Kampf um Freiheitsrechte darf vor allem nicht denen überlassen werden, die anderes im Sinn haben, nicht denen, die die offene Gesellschaft aus den Angeln heben wollen, nicht denen, die mit Zynismus an dieses Thema herangehen, nicht denen, die es an Respekt vor jedem Menschen mangeln lassen. Hier ist ein Kampf zu führen. An diesen Kampf muss die Zivilgesellschaft aktiv teilnehmen. Dazu gehört auch, dass die Inklusion aller, auch derer, die zu uns gekommen sind, auch derer mit Migrationshintergrund – immerhin ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger – auch derer, die als Flüchtlinge zu uns kommen, in den selbst gewählten Gemeinschaften gelingt. Das muss nicht in jeder einzelnen sein, aber in der Summe muss gerade das gelingen.

 

9. These: Die Akteure des demokratischen Staates müssen diese Mitgestaltung und Einbindung von Zivilgesellschaft und von bürgerschaftlichem Engagement ermöglichen, nicht sie behindern oder belächeln.
Der „Shrinking Civic Space“ oder „Shrinking Space for Civil Society“, der sich verengende Raum für bürgerschaftliches Engagement, ist ein Phänomen, das mit Ägypten, Russland, China oder Ungarn assoziiert wird und das wir dort auch mit Kopfschütteln begleiten. Es ist unverkennbar auch in Westeuropa angekommen. Wir wünschen uns ein subsidiäres Staatsverständnis im Sinne eines Subsidiaritätsprinzips, wie es Oswald von Nell-Breuning vor 100 Jahren entwickelt hat. Er sah dies nicht beschränkt auf die freie Wohlfahrtspflege; das wäre ein viel zu enges Verständnis. Es geht um eine umfassende Subsidiarität, in dem kleine freiwillige Gemeinschaften, das bürgerschaftliche Engagement tatsächlich an der ersten Stelle stehen. Das wird sonntags jeder gerne bestätigen. Werktags schaut das immer mehr anders aus. Misstrauen, Überwachung, Kontrollen und Prüfungen nehmen immer mehr zu. Es liegt an den Bürgerinnen und Bürgern, die Akteure im demokratischen Staat immer wieder aufzurufen, sich darauf zu besinnen und die Mitgestaltung unserer Gesellschaft durch bürgerschaftliches Engagement zu ermöglichen, ja, auch zu ermutigen. Es liegt an der Zivilgesellschaft, diese Mitgestaltung einzufordern – und den Staat daran zu erinnern, dass er kein mythisches höheres Wesen, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern beauftragt und bezahlt ist.

 

10. These: Bürgerin und Bürger heißt heute Weltbürgerin und Weltbürger.
Die Vorstellung, es gäbe zwischen Staatsbürgern und sonstiger „Bevölkerung“ einen Unterschied, ist in Zeiten der kommunikativen Revolution, der globalen Migration, aber auch einer globalen Verantwortung für die Welt und vieler anderer Indikatoren, nicht zuletzt einer globalen Pandemie, obsolet geworden. Menschen- und Bürgerrechte sind global einlösbar, Pflichten global wahrzunehmen. Die Zivilgesellschaft scheint dies besser verstanden zu haben als die Nationalstaaten, aber nicht alle haben es verstanden. Diejenigen, die daran nicht glauben wollen, müssen wir überzeugen und mitnehmen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.


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