„Ich sehe keine Arbeiterkultur 2.0“

Jürgen Kocka im Gespräch

Was war Arbeiterkultur? Inwieweit gibt es diese noch heute? Welche Rolle spielt dabei die soziale Klasse? Hans Jessen spricht mit dem Sozialhistoriker Jürgen Kocka über diese Themen und anderes mehr.

 

Hans Jessen: Herr Kocka, was ist Arbeiterkultur? Sie haben deren Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforscht, als mit der Entwicklung der kapitalistischen Industriegesellschaft sich auch die Arbeiterklasse herausbildete. Lässt sich Arbeiterkultur in einem einfachen Bild fassen?

Jürgen Kocka: Was Arbeiterkultur ist, wird von Wissenschaftlern und politischen Akteuren sehr unterschiedlich beantwortet. Der Begriff „Arbeiterkultur“ wurde wissenschaftlich populär in den 1970er und 1980er Jahren. Man wollte herausfinden, was die Wirklichkeit des Arbeiterlebens jenseits besser erforschter Dimensionen wie Lohn, Arbeitszeit und Wahlverhalten ausmacht. Man versuchte an die Ebenen der subjektiven Befindlichkeiten von Arbeitern heranzukommen, an Erfahrungen, Wahrnehmungen, Deutungen, Weltbilder und Lebensweisen.

Für diese schwer zu fassende Dimension des Lebens einer sozialen Klasse hat sich in den Wissenschaften das Wort „Arbeiterkultur“ herausgebildet. Im Unterschied dazu ist bei den Aktivisten der Arbeiterbewegung Arbeiterkultur sehr viel stärker ein Kampfbegriff: Er bezeichnet das nichtbürgerliche, aber substanziell Wichtige der Arbeiterexistenz. Hier enthält Arbeiterkultur das Element der Differenz und des Kampfes gegen das Establishment.

 

Ihr Interesse als Sozialhistoriker gilt dem Zusammenhang. Sie bezeichnen ihn als „Gewebe“ zwischen Arbeiterleben und Arbeiterkultur bei der Entstehung dieser sozialen Klasse. Was machte die frühe Form der Arbeiterkultur aus?

Arbeiterleben und Arbeiterkultur lassen sich nicht trennscharf voneinander differenzieren. Sie gehen ineinander über. Es sind Phänomene, die zu tun haben mit Erfahrungen und Erwartungen, mit Kommunikation, mit Gemeinsamkeit und Abgrenzung. Gemeinsamkeit mit anderen, Abgrenzung von anderen. Es geht um die Besonderheiten einer Lebensweise und Existenzform.

In der Zeit der Entstehung dieser neuen sozialen Klasse war die Arbeiterkultur zum einen stark geprägt von traditioneller Volkskultur. Dazu gehörte auch Religiosität. Der Kirchenkalender spielte in katholischen wie protestantischen Gegenden eine große Rolle, er strukturierte das Leben der „kleinen Leute“ auf dem Land und in der Stadt – auch Vergnügungen wie die Kirmes, der Jahrmarkt, Erntefeste, Einschnitte im Lebenslauf. Die Arbeiterschaft rekrutiert sich meistens aus den „kleinen Leuten“ in Land und Stadt, von daher wächst ein Stück Volkskultur in die entstehende Arbeiterkultur hinein.

 

Sie schreiben aber auch, dass die bürgerliche Kultur einen Orientierungs- und Reibungspunkt für die entstehende Arbeiterkultur bildete.

Die Arbeiterklasse entsteht in einer zunehmend auch bürgerlichen Gesellschaft. Schulen und Bildung waren ganz wichtig. Keine guten Schulen, die meisten Arbeiterkinder besuchten nur die „Volksschulen“, häufig in riesengroßen Klassen ohne individuelle Förderung durch Lehrer.

Aber immerhin: Schulen. Autobiografien von Arbeitern dieser Jahre lassen einen prägenden Unterschied gegenüber der alten Volkskultur erkennen: Sie bekamen Ideen, dass es sich lohnen konnte, nach etwas Neuem zu streben. Ziele zu setzen. Mehr zu wollen, als man bislang hat, besonders auch für die Kinder, die nächste Generation.

Proaktiv und vielleicht auch kampffähiger zu werden. Arbeiterkultur war insofern zwar gekennzeichnet durch alte Volkskultur, aber andererseits vom Versuch, sich von ihr abzulösen durch Einflüsse der bürgerlichen Kultur – von der die Arbeiter zugleich aber ausgegrenzt waren.

Als weiteres wesentliches Element: Lebensweisen, die erstens sehr stark durch Arbeit bestimmt sind, die zweitens durch Dürftigkeit und Nähe zur Armut bestimmt sind und die drittens durch die Erfahrung von Abhängigkeit geprägt sind: Abhängigkeiten vom Markt und von Arbeitgebern. Dass sehr früh sehr viel hart körperlich gearbeitet werden musste, wirkte bis tief in die Familien hinein. Meist trugen beide Elternteile zum Familienunterhalt bei, und die Kinder mussten früh mitarbeiten. Arbeit ist ständig da, als Überlebensnotwendigkeit.

Keine ökonomischen Spielräume, beengte Wohnverhältnisse, Lohnarbeit, Unterordnung, bürgerliche Einflüsse – aus diesen vielfältigen Spannungsverhältnissen ergibt sich etwas Neues: die Arbeiterkultur.

 

Sie haben schon darauf hingewiesen, dass es in den 1970er und 1980er Jahren eine Renaissance des Interesses an Arbeiterkultur gab. Ein populärer Slogan dieses neu erwachten Interesses lautete: „Was dem Bürger sein Goethe, ist dem Arbeiter seine Solidarität“. Ist das eine zulässige Zuspitzung der Definition unterschiedlicher Kulturverständnisse?

Gewiss eine Zuspitzung – aber nicht ohne Grund. Sie hatte ein Fundament in der realen Wirklichkeit, soweit wir die als Historiker und Sozialwissenschaftler herausfinden können. Zur Lebensweise der Arbeiter ganz unterschiedlicher Berufe gehörte auch das Leben in Nachbarschaften und die Gemeinsamkeit mit Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz.

Und jenseits des Arbeitsplatzes wurde kommuniziert mit Menschen ähnlicher Art beim Bier in der Kneipe oder beim Ausflug in die Natur am Sonntag oder im Arbeiter-Sportverein. Die soziale Dimension, verstanden als Kommunikation und als gemeinsame Erfahrungswelt, gehört mehr dazu als bei den Bürgern, die sich stärker als Individuen verstanden und lebten.

Zum anderen: Für das Leben als Wirtschaftsbürger oder als aufstrebender Akademiker ist Konkurrenz eine zentrale Erfahrung. Konkurrenz zwischen Arbeitern war wesentlich weniger ausgeprägt, nach allem, was wir wissen. Von daher mehr Chancen, gemeinsam etwas anzupacken – Chance und Notwendigkeit von Solidarität. Die Gemeinsamkeit des Handelns hat lange Tradition in der Gesellenbrüderschaft und in der dörflichen Gemeinde. Das setzt sich bei den Arbeitern fort in neuen Aktionsformen wie z. B. Unterstützungskassen, Streiks oder im politischen Verhalten. In der Arbeiterkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war Solidarität in einem Maße eingebaut, wie man das im normalen bürgerlichen Leben nicht kannte.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich Lebens- und auch Produktionsbedingungen in den modernen Industriegesellschaften zumindest auf der Oberflächenebene dramatisch gewandelt. Es gab die These vom Verschwinden der alten Klassen, auch der Arbeiterklasse. Stimmt das? Falls ja: Was bedeutet dieser Wandel für die Arbeiterkultur?

In der Tat kehren sich die Prozesse der Klassenherausbildung, die wir im 19. und frühen 20. Jahrhundert gesehen haben, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im frühen 21. Jahrhundert tendenziell um. Eine Phase der Klassenbildung ist allmählich übergegangen in eine Phase der Klassenauflösung.

Damit schwindet auch die klassisch erkennbare Arbeiterkultur. In der frühen Phase lebten Arbeiter meist zusammen in klassischen „Arbeitervierteln“ auf engem Raum. Man traf sich nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in der Lebenswelt der Mietshäuser und nach Feierabend. Auf enge Distanz, mit gemeinsamen Nachbarschaftsbeziehungen, gegenseitigen Hilfeleistungen. Diese Wohnquartiere haben sich größtenteils aufgelöst. Gemeinsamkeit dieser Art differenzierte sich aus, zum Teil auch deswegen, weil viele Söhne und Töchter aus Arbeiterfamilien Aufstiege erlebten, Bildung erwarben, in andere Berufe hineingingen. Und generell die Zahl der Arbeiter abgenommen hat, zugunsten von Dienstleistungsberufen, wenn auch oft prekären Zuschnitts. Das Zweite: Die Erfahrung des Ausgegrenztwerdens hat sich verändert und verringert. Zur klassischen Arbeiterkultur gehört nach meiner Auffassung auch, dass viele Lebensmöglichkeiten verschlossen waren. Arbeiter kamen nicht leicht in bürgerliche Vereine hinein. Sie hatten auch nicht das Geld und die Kontakte, oft auch nicht das Interesse, um in bürgerliche Festivitäten wie Theater und Oper hineinzukommen. Wenn sie sich politisch betätigten, galten sie als „rote Gefahr“ im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und danach.

Diese Ausgrenzungserfahrung hat sich stark verringert. Die Exklusionsmechanismen sind schwächer und weicher geworden, vielleicht auch subtiler.

 

Der aktuelle Begriff „Klassismus“ beschreibt aber nach wir vor bestehende strukturelle Ungleichheiten und tradierte Benachteiligungen …

Ja. Ich habe keine Beschreibung einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft gegeben. Was ich meine: Die Art von Ungleichheit, die zur Entstehung einer Arbeiterklasse und Arbeiterkultur geführt hat, das harte Ausgrenzen von handarbeitenden Menschen und dadurch geprägten Lebensformen ist deutlich rückläufig. Klassenspezifische Unterhaltung ist durch moderne Formen der Massenkultur überlagert worden. Auflösung von Arbeitergemeinsamkeit, Abmilderung harter Formen von Ausgrenzung – damit sind zwei wichtige Ursachen der Entstehung von Arbeiterkultur verblasst.

 

Sehen Sie die Möglichkeit von Arbeiterkultur 2.0? Angepasst an die beschriebenen Veränderungen der Gesellschaft?

Eine Annäherung an die Frage: Zur klassischen Arbeiterkultur gehörte der Arbeitersportverein, nicht der moderne Zuschauer-Sport. Zur klassischen Arbeiterkultur gehörte die Sozialisation in Nachbarschaften, nicht in öffentlichen Kindertagesstätten. Zur klassischen Arbeiterkultur gehörte auch die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft. Und die Arbeiterpartei gehörte auch dazu. Das sehe ich nicht mehr.

Wenn man überlegt, wo vergleichbare Strukturen heute zu finden wären, müsste man vielleicht in die Minderheiten schauen. In die auch ethnisch definierten Migrantenkreise blicken, wieweit dort Formen der Arbeiterkultur neu entstehen. Die dann allerdings von Herkunft und Religion mitgeprägt wären. Aber das trägt gerade nicht zur Herausbildung einer übergreifenden Arbeiterklasse bei, vielmehr zu einer neuen Form von Segmentierung.

Ich sehe keine Arbeiterkultur 2.0.

 

Was bedeutet die Corona-Pandemie mit ihren Auswirkungen auf die Entwicklung gesellschaftlicher Kulturen? Seit dem vergangenen Jahr wurde viel zurückverlegt in häusliche Bereiche, von Homeschooling bis Homeoffice. Frauen wurden zum Teil zurückgeworfen in Rollen, die man überwunden glaubte. Ist das, unter dem Gesichtspunkt einer auf Emanzipation zielenden Arbeiterkultur, ein Rückschritt?

Die jetzige Krise beschleunigt Prozesse, sie verlangsamt nicht, führt nicht zurück, sondern treibt voran. Dazu gehört Homeoffice – ein merkwürdiges Wort, die Bezeichnung Telework, also Arbeit auf Distanz, wäre vielleicht treffender. Hier findet, als Folge der Digitalisierung, eine Neuintegration statt zwischen Familie und Haushalt einerseits, Erwerbsarbeit andererseits. Die Arbeiterkultur, wie wir sie vorhin besprochen haben, hatte mehrere große Voraussetzungen. Eine davon: Mit der Industrialisierung löste sich Erwerbsarbeit aus dem Familien- und Haushaltskontext heraus und ging über in Fabriken, Werkstätten, Verwaltungen. So entstand eine räumliche Distanz, die einerseits die Privatisierung von Familie und Haushalt erleichterte und auf der anderen Seite ermöglichte, dass die Arbeit als etwas Gemeinsames erfahren werden konnte. Auch mit den gesellschaftlichen, den vergesellschaftenden Sozialisationsfolgen, die auch zur Entstehung der Arbeiterbewegung geführt haben. Das wäre nicht geschehen, wenn, wie in den Jahrhunderten zuvor, landwirtschaftliche und handwerkliche Heimarbeit im Familienverbund dominiert hätte. Die Dissoziation von Familie und Haushalt einerseits und Erwerbsarbeitswelt auf der anderen Seite war eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Arbeiterkultur und Arbeiterbewegung.

Jetzt, unter dem Einfluss der Digitalisierung, sehen wir eine gewisse Reintegration: Ein Teil der Erwerbsarbeit wandert zurück in den Haushalt und in die Familie, die dadurch Privatheit verliert.

Ich habe mich immer gewundert, warum Reiner Hoffmann und andere im DGB so sehr das Recht auf Heimarbeit betonen und fördern. Die wird zu weiterer Individualisierung führen, dazu, dass die vergesellschaftende Kraft von Arbeit schwächer wird, und damit auch die Basis der Arbeit von Gewerkschaften. Diese Tendenz zur Reintegration von Familie/Haushalt und Erwerbsarbeit, die aus historischer Sicht eine geradezu tektonische Verschiebung darstellt, ist durch die Pandemie beschleunigt worden. Zur klassischen Arbeiterkultur gehörte übrigens oft auch ein hohes Maß an weiblicher Selbständigkeit, ein Stück Emanzipation. Das könnte in der Pandemie rückläufig zu sein.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Jürgen Kocka & Hans Jessen
Jürgen Kocka ist Sozialhistoriker. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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