Das Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft

Geschlechtergerechtigkeit im Grundgesetz

Für solche Konstellationen hat der Europäische Gerichtshof das Konzept der mittelbaren Diskriminierung entwickelt: Diese liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren tatsächlich Personen auf Grund ihres Geschlechts diskriminieren. Beispiele wären die Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten oder die schlechtere Bezahlung an Grundschulen, von der jeweils überdurchschnittlich viele Frauen betroffen sind. Diese verbreitete Diskriminierung ist aufzudecken und zu unterbinden, damit Gleichberechtigung in der Lebenswirklichkeit ankommt. Trotz wichtiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts blieben für das Arbeitsleben europäische Antidiskriminierungs-regelungen besonders relevant und führten zum Erlass des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, welches umfassend die Diskriminierung durch Private im Erwerbsleben verbietet.

 

Berühmt wurde aber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Frauen, wonach der Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und in die Zukunft zielt. Einem rein formalen Konzept von Gleichheit, welches nur geschlechtsneutrale Normtexte fordert, war damit endgültig eine Absage erteilt. Zur Klärung wurde 1994 im Zuge der Wiedervereinigung und auf Betreiben der Zivilgesellschaft ein zweiter Satz in Art. 3 Abs. 2 GG eingefügt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

 

Dem war eine jahrelange juristische Diskussion zu Quoten vorausgegangen, die wenig durch Argumente überzeugte. Das Bundesverfassungsgericht musste sich nicht positionieren, sondern überließ dem Europäischen Gerichtshof die Entscheidung in den Fällen Kalanke, Marschall, Badeck und Abrahamsson. Bestätigt wurde, dass Frauen bei gleicher Eignung, Befähigung und Leistung bevorzugt einzustellen oder zu befördern sind, sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe (ausnahmsweise) überwiegen. Nicht gesehen wurde, dass die UN-Frauenrechtskonvention eine weitaus effektivere Vorstellung von Gleichberechtigung und „temporary special measures“ vertritt. Nicht gesehen wurde auch, dass Leistungen aufgrund von „Gender Bias“ unterschiedlich bewertet werden und kaum jemals „gleich“ sind. Schafft eine Frau es doch einmal durch überragende Leistungen, wird sie als „Quotenfrau“ diskreditiert.

 

Die spektakuläre Erfolglosigkeit von Quoten macht sie auch bei denen unbeliebt, die sich für Gleichberechtigung als Lebensrealität einsetzen. Dennoch kann insgesamt nicht auf gezielte Fördermaßnahmen verzichtet werden – und folgt dieser Verzicht entgegen verbreiteter Ansicht auch nicht aus dem Dritte-Options-Entscheid des Bundesverfassungsgerichts, wenn man das Urteil tatsächlich liest. Spätestens mit der Verfassungsänderung von 1994 ist klargestellt, dass das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nicht nur auf formale Gleichbehandlung zielt, sondern immer auch auf die Beseitigung tatsächlicher, in der Lebenswirklichkeit bestehender Nachteile für Frauen, also die Garantie von Gleichheit in Freiheit und Würde. Dies verlangt aktives staatliches Handeln. Die Diskussion um Chancen- oder Ergebnisgleichheit ist dabei wenig zielführend, da die Beseitigung von Nachteilen wie insbesondere auch struktureller Diskriminierung und schädigender Geschlechterrollenstereotypen je nach Konstellation verschiedene staatliche Maßnahmen verlangen kann.

 

Ungeachtet des symmetrisch gehaltenen Wortlauts von Art. 3 Abs. 2 GG ist die Schutzrichtung der Norm angesichts historisch gewachsener struktureller Ungleichheiten und aktueller hierarchischer Geschlechterverhältnisse asymmetrisch, also ein zugunsten von Frauen wirkendes, antipatriarchales Dominierungs- bzw. Hierarchisierungsverbot. Gleichberechtigung bedeutet junge und fragile Errungenschaften. 100 Jahre Wahlrecht und juristische Berufe, 40 Jahre Reform des Ehe- und Familienrechts und 20 Jahre Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – das sind auch alles unvollendete Projekte. Umso befremdlicher sind angesichts eines auf 30,9 Prozent gesunkenen Frauenanteils im Deutschen Bundestag die pauschalen Abwertungen von »Parité-Forderungen«. Natürlich lässt sich darüber juristisch streiten – aber dann dürfen bessere Argumente erwartet werden als der bloße Hinweis auf die Freiheit der Wahl.

 

Nach 70 Jahren ist das Potenzial von Art. 3 Abs. 2 GG noch nicht annähernd ausgeschöpft. Nur wenige Akteurinnen im juristischen Diskurs konnten durch konstruktive und innovative Konzepte überzeugen, welche dazu beitragen können, Gleichberechtigung zur Lebensrealität zu machen. Viele Juristen haben sich auf Emotionen beschränkt. Hier liegt eine der wesentlichen Herausforderungen für die Zukunft: Die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter erfordert erhebliche gesellschaftliche Veränderungen, welche mit Umverteilung von Ressourcen, Machtverlust und Machtgewinn, tiefgreifenden kulturellen Neuorientierungen und damit notwendig auch erheblichen Effekten in individuellen Lebensentwürfen verbunden sind.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

Ulrike Lembke
Ulrike Lembke ist Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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