Sterben mitten im Leben

Tod und Abschied in der Corona-Pandemie

 

Auch da gibt es Lockerungen.
Steinhauser: Zum Glück. Wir hatten vor einigen Wochen die Beisetzung eines älteren Hamburgers mit großem Freundeskreis. Da waren nur drei Trauernde am Grab, andere, die gedurft hätten, haben sich nicht getraut, weil sie hochbetagt sind. Wir überlegen nun, mit den Angehörigen und Freunden später eine Gedenkfeier zu organisieren. Es ist jetzt viel Kreativität gefordert. Aber schön sind diese Entscheidungen nicht.

 

Was bedeutet es für die Sterbenden, ihre Angehörigen und Freunde, wenn sie jetzt nicht voneinander Abschied nehmen können?
Steinhauser: Das kann man nicht nachholen, das ist ein Riesendilemma. Und das gilt nicht nur für an Corona Erkrankte. Ich hatte Gespräche mit Trauernden, die ihren dementen Vater im Pflegeheim nicht besuchen durften, und als er dann an Corona erkrankte und verstarb, konnte er nicht begleitet werden. Die Angehörigen durften nicht einmal am offenen Sarg Abschied nehmen, weil der Verstorbene positiv getestet war. Das quält die Angehörigen, weil sie nicht wissen, wie es dem Vater am Lebensende ging, ob sie noch etwas für ihn hätten tun können, und sie ihn nicht mehr sehen konnten. Das ist ein großer Schmerz und für uns als Trauerbegleitende eine zusätzliche Herausforderung.

 

Fuchs: Auch bei uns im Hospiz ist es sehr wichtig, Angehörigen und Freunden den Abschied erfahrbar zu machen. Der Tod ist etwas Abstraktes. Wie fühlt sich das an, wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist? Es kann der erste Schritt für einen heilsamen Abschied sein, bei einem Verstorbenen am Bett zu sitzen und zu sehen, wie sich der Körper verändert.

 

Nehmen jetzt mehr Menschen Ihre Angebote der Trauerbegleitung wahr?
Steinhauser: Eher weniger. Auch Beratungsstellen und Therapeuten berichten, dass sich im Moment weniger Menschen an sie wenden. Das könnte auch damit zu tun haben, dass für viele gegenwärtig das eigene Überleben Vorrang hat. Solange dieses nicht gesichert ist, kann das auch die Trauer um geliebte Menschen, die verstorben sind, überlagern.

 

Es wird sehr kontrovers diskutiert, ob man alte, vorerkrankte, morbide Menschen, die ohnehin nicht mehr lange zu leben haben, vor dem Virus schützen muss um den Preis, das Leben aller einzuschränken. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat darauf hingewiesen, dass der Lebensschutz nicht über allem stehe. Wie sehen Sie das?
Steinhauser: Der Schutz von Leben steht aus meiner Sicht obenan. Deshalb halte ich mich auch zurück, einzelne Maßnahmen zu kritisieren. Es ist ein so großes Bemühen da, Leben zu schützen, Alte, Junge, Kinder, dass klar ist, das kommt an oberster Stelle. Ich habe Hochachtung, dass so viele Menschen bereit sind, sich zu begrenzen, um sich und andere zu schützen.

 

Fuchs: Es ist im Großen wie im Kleinen ein Herantasten an Kriterien, an Wertigkeiten. Welchen Preis sind wir bereit für was zu zahlen. Die Hospizarbeit hat in Deutschland später begonnen als in anderen Ländern aufgrund unserer Geschichte. Dürfen wir ein Sterben beschleunigen, darf ein Arzt eine Auswahl treffen, diese Dame ist 86, ich beatme sie nicht mehr – das ist bei uns alles durch die Euthanasie der Nazis belastet. Wir haben dafür gekämpft, nicht zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben zu unterscheiden. Auf einmal stehen wir an einem Punkt, wo wir das wieder entscheiden sollen.

 

Vielleicht muss man einfach aushalten, dass es darauf keine Antwort gibt?
Fuchs: Ja, jeder Einzelne ist genauso viel wert, egal wie alt und krank er oder sie ist.

 

Es wird wenig darüber gesprochen, was es für schwer an Corona Erkrankte bedeutet, wenn sie über Wochen beatmet werden und dann doch oft sterben. Isoliert, einsam, ohne Begleitung und ins künstliche Koma versetzt, also ohne Bewusstsein. Wäre es nicht humaner, die, die nicht zu retten sind, im Hospiz oder daheim sterben zu lassen, unter Infektionsschutz, aber im Kreis ihrer Lieben?
Fuchs: Es gibt in diesen Fällen sicher nicht mehr die Zeit, sie woandershin zu verlegen, abgesehen davon, dass es nicht erlaubt ist. Mit dem Einstellen der Beatmung wird der Sterbeprozess eingeleitet. Man müsste eher überlegen, wie man dann einen Abschied ermöglicht. Sterbesituationen sind im Gesetz vom Besuchsverbot ausgenommen. Die Einrichtungen müssen dann entscheiden, wieweit sie Besuche zulassen. Der Gesetzgeber hat das bewusst offengelassen. Das nutzen wir in unserem Hospiz, um die Regelungen etwas weiter auszulegen. Es sollte aber auch jeder für sich überlegen, was er für sich wünscht für den Fall, dass er schwer erkrankt, und eine Patientenverfügung machen. Corona ist zunächst mal eine akute Erkrankung, die an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen appelliert.

 

Ist der gesellschaftliche Druck nicht so groß, jeden zu beatmen, um ihn zu retten?
Steinhauser: Es kann jeder jeder Maßnahme widersprechen.

 

Aber nicht mehr, wenn er ins Koma versetzt ist.
Steinhauser: Jeder sollte es vorher schriftlich festlegen. Pflegeeinrichtungen haben damit begonnen, ihre Bewohner zu befragen, ob sie bei einer Infektion in eine Klinik verlegt werden wollen oder ob sie dort bleiben und im Fall des Falles versterben möchten. Die Einrichtungen folgen diesen Verfügungen und auch für Ärzte sind sie bindend.

 

Was würden Sie sich selbst wünschen, wenn es Sie beträfe?
Fuchs: Ich würde wünschen, dass medizinisch alles getan wird, weil die Infektion noch so unberechenbar ist. Man kann sehr gut gesunden. Ich würde daher, obwohl ich sonst da sehr skeptisch bin, auch beatmet werden wollen. Ich hätte auch nicht so viel Angst davor, alleine zu sterben. Aber ich würde mir Gedanken um meine An- und Zugehörigen machen, weil es ihnen sicher zu schaffen machte, von mir nicht gut begleitet Abschied nehmen zu können.

 

Steinhauser: Bei mir ist das ein bisschen anders. Ich habe ein hohes Vertrauen in die Mediziner und würde mich nicht generell gegen eine Intensivbehandlung wehren. Mir wäre aber wichtig, in jeder Situation entscheiden zu können, möchte ich diesen Schritt noch gehen oder nicht. Dieses Selbstbestimmungsrecht möchte ich nicht verlieren. Wenn ich wüsste, dass das gewährleistet ist, würde ich mich gut aufgehoben fühlen.

 

Also Autonomie bis zum Lebensende?
Steinhauser: Ich finde es generell wichtig, dass wir die Menschen viel mehr einbeziehen. Allen Medizinern und Pflegekräften sollte bewusst sein, dass Patienten autonome Wesen sind, die nicht nur wissen müssen, sondern auch entscheiden können müssen, was mit ihnen geschieht. Es ist nicht immer leicht, gegenüber manchen Ärzten durchzusetzen, dass ein Mensch nicht um jeden Preis leben möchte, auch wenn es vielleicht noch die Chance auf Lebensverlängerung gibt.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Ludwig Greven, Mareike Fuchs & Peggy Steinhauser
Mareike Fuchs leitet das Hospiz Hamburg Leuchtfeuer auf St. Pauli in Hamburg. Peggy Steinhauser leitet das Hamburg Leuchtfeuer Lotsenhaus, das mit dem Hospiz zur gemeinnützigen Leuchtfeuer Stiftung gehört und individuell gestaltete Bestattungen, Trauerbegleitung, Kurse und Seminare anbietet. Ludwig Greven ist freier Publizist.
Vorheriger ArtikelDie Zerreißproben stehen bevor
Nächster ArtikelSystem(ir)relevant