System(ir)relevant

Der Beitrag von Kultur und Religion zum gesellschaftlichen Leben

Nicht nur ein fataler Virus hat sich in Deutschland ausgebreitet. Mit ihm sind auch neue Wörter bei uns heimisch geworden. Eines von ihnen ist besonders bedenklich, weil es erstens ausgesprochen hässlich ist und zweitens so schnell eine solche Macht erlangt hat. Es stammt – das festzustellen ist kein Zeichen von Fremdenfeindlichkeit – aus den USA. Deutschland ist ja sprachlich vor allem eine Importnation. Das fiese Wörtchen, das ich meine, heißt: “systemrelevant”. Wie ein überaus scharfes Messer schneidet es aus dem dichten gesellschaftlichen Gewebe die wenigen Institutionen und Berufsgruppen heraus, auf die in einer Krise auf gar keinen Fall verzichtet werden darf. Jedes vor allem finanzielle Mittel ist gerechtfertigt, sie am Leben und Arbeiten zu er-halten. Denn sie allein, so behauptet es dieses Adjektiv, sind für das Überleben des Systems relevant. Alle anderen eher nicht so.

 

Das mag für eine zeitlich begrenzte Quarantäne nachvollziehbar und legitim sein. Es schadet aber nicht, sich zu vergegenwärtigen, wo dieses Wort denn herkommt. Das deutsche “systemrelevant” ist eine Übertragung von “systemically important”. Dieses hat in den USA eine lange Vorgeschichte: Immer wenn extreme finanzpolitische und finanzwirtschaftliche Krisen ausbrachen, wurde danach gefragt, welche Bank, Firma oder staatliche Einheit zu groß und zu wichtig war, als dass sie hätte bankrottgehen dürfen. Würde ihre Pleite so viele andere, eigentlich gesunde Institutionen mit sich in die Pleite reißen, dass am Ende das Wirtschaftssystem als Ganzes in den Abgrund stürzen könnte? Merke: Auch in der Finanzwelt gibt es Infektionsraten! Seinen größten Auftritt bisher hatte “systemically important” 2007 bei der schlimmsten aller Finanzkrisen und diente damals zur Rechtfertigung dafür, allerlei unsolide geführte Banken mit Unmengen von Steuergeldern vor dem Kollaps zu retten. Wohl dem, der sich dieses Adjektiv ans Firmenschild kleben kann!

 

Dann kam Corona, und “systemrelevant” erhielt neue Ausbreitungsmöglichkeiten. Um die Gesundheit des Volkes, die Arbeitsfähigkeit des medizinischen Betriebs sowie die öffentliche Ordnung zu schützen, wurden die allseits bekannten Professionen und Institutionen als “systemrelevant” markiert und von den üblichen Einschränkungsregeln ausgenommen. Dass dies sinnvoll war, dürfte sich gezeigt haben. Je länger die Corona-Krise aber anhält, umso deutlicher werden die fatalen Nebenwirkungen dieser semantischen Pille. Da ist zunächst die Blickverengung. Man muss sich nicht über Niklas Luhmanns Systemtheorie habilitiert haben, um zu ahnen, dass moderne Gesellschaften nie nur ein System darstellen, sondern dass sie im Gegenteil aus verschiedensten Teilsystemen bestehen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Das zweite Problem ist ein undurchschauter Autoritarismus. Denn wer bestimmt eigentlich, wer für eine Gesellschaft relevant oder irrelevant ist? Wo und wann wäre darüber je demokratisch gestritten worden? Manche Auswahl mag selbstevident gewesen sein, aber nicht jede.

 

Die Teilsysteme Kultur und Religion jedenfalls mussten die Erfahrung machen, von einem Tag auf den anderen für irrelevant erklärt zu werden. Mehr noch: Plötzlich galten sie nicht mehr als Quellen des Schönen und Guten, sondern als Gefahrenherde. Auch dafür gab es natürlich epidemiologische Gründe. Doch längst hat sich gezeigt, was verloren geht, wenn es keine Konzerte in Kirchen oder Philharmonien, keine Theatervorstellungen und Gottesdienste, keine Seelsorge und keine Literaturlesungen, keine Begegnungen in Kultur- und Gemeindehäusern mehr gibt. In einem System, in dem all dies nicht relevant wäre, möchte man nicht leben. Dann lieber bewusst und mit Stolz “systemirrelevant” sein! Vielleicht aber hat die Corona-Krise darin ein Gutes, dass sie das Bewusstsein dafür weckt, wie gut, heilsam und lebensnotwendig – um am Schluss ein paar schöne deutsche Adjektive zu verwenden – das ist, was Kultur und Religion zu einem gesellschaftlichen Leben beitragen können.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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