Ludwig Greven, Mareike Fuchs & Peggy Steinhauser - 28. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Sterben mitten im Leben


Tod und Abschied in der Corona-Pandemie

Ludwig Greven spricht mit Mareike Fuchs und Peggy Steinhauser, den Leiterinnen eines Hamburger Hospizes und eines Hauses für Bestattung und Trauerbegleitung, über Tod, Sterben und Abschiednehmen unter den aktuellen Bedingungen der Corona-Pandemie.

 

Ludwig Greven: Frau Steinhauser und Frau Fuchs, wodurch sind Sie beide dazu gekommen, sich mit Tod und Sterben zu beschäftigen und das zu Ihrem Beruf zu machen?
Peggy Steinhauser: Bei mir war es nicht so, dass jemand gestorben ist und ich in besonderer Weise um ihn getrauert und mich deshalb diesem Thema zugewandt habe. Ich bin Theologin und wollte ursprünglich Pastorin werden, konnte mich dann aber nicht mit der Institution Kirche arrangieren und habe überlegt, was ich stattdessen mit diesem Studium machen kann. Dabei bin ich auf die seelsorgerliche Begleitung von Sterbenden und ihren An- und Zugehörigen gestoßen. Bei Praktika habe ich gemerkt, wie inspirierend es sein kann, Menschen in ihren existenziellen Situationen zu erleben und zu begleiten. Ich habe durch sie auch eine Menge für mein Leben erfahren.

 

Mareike Fuchs: Meine Motivation hat zwei Seiten: eine spirituelle und eine weltlich-gesellschaftliche. Ich habe schon in der Studienzeit in der Altenpflege gearbeitet. Eines Tages sagte eine junge Kollegin: Da ist eine Frau gestorben, ich gehe nicht in das Zimmer. Sie hatte Angst davor. Mich hat das auch beunruhigt, aber mir war es wichtig, mich von dieser Frau zu verabschieden, weil ich sie über Jahre versorgt hatte. Als ich in das Zimmer kam, spürte ich eine große, tiefe Stille. Für mich war das eine wichtige Begegnung, auch mit Gott. Da hat sich bei mir ein Bild geformt. Ich empfinde die menschliche Lebenszeit wie das Brennen einer Kerze in einem Teelicht. Wenn wir sterben, ist die Flamme erloschen, aber die Hülle, das Äußere ist noch da. Das innere Licht ist nur weitergegangen. Während meines Sozialarbeitsstudiums in Osnabrück habe ich das Hospiz dort kennengelernt und erfahren, das Sterben als Teil des Lebens und den Tod als einen natürlichen Prozess zu begreifen, auf den wir unser ganzes Leben zusteuern. Mit Achtsamkeit und Liebe begleitet. Da wusste ich, da will ich arbeiten. Dazu kommt die weltliche Ebene: Hospize stehen dafür, dass im Tod und Sterben alle das gleiche Recht auf Begleitung haben, egal wie und was sie im Leben waren, ob Chefarzt, Fabrikbesitzer, Kapitän oder Hafenarbeiter. Da gibt es keine materiellen Unterschiede.

 

Wie hat sich die Arbeit für Sie durch die Corona-Krise verändert?
Fuchs: Wie in der gesamten Gesellschaft bemerken wir im Hospiz eine große Verunsicherung. Was bedeutet es, wenn Menschen plötzlich in dieser Weise mit Verletzlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert sind? Wie definieren sich Verantwortung gegenüber anderen und gegenüber mir selbst und Schutz im Miteinander? Im Hospiz verdichtet sich ohnehin die Lebenszeit. Die Menschen bleiben bei uns im Schnitt vier bis fünf Wochen. Wir haben nicht die Möglichkeit, noch mal eine Kurve links oder rechts zu machen. Durch die gesetzlichen Auflagen ist es ein tägliches Auseinandersetzen: Was fordern Gesellschaft und Gesetz? Und was brauchen wir und die Menschen bei uns, um unserem hospizlichen Auftrag gerecht zu werden? Konkret wird das bei der Frage der Besuche. Für die Sterbenden sind Kontakte zu An- und Zugehörigen im Prozess des Abschiednehmens existenziell. Auf der anderen Seite trage ich Verantwortung für ein ganzes Haus mit 30 hauptamtlichen und 70 ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Dazwischen muss ich mich bewegen, um einerseits die Infektionswege möglichst gering zu halten, auf der anderen Seite die individuelle Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner aufrechtzuerhalten. Das ist jeden Tag ein Spagat.

 

Hatten Sie im Hospiz ohnehin Sterbende, die am Coronavirus erkrankt und dadurch gestorben sind?
Fuchs: Gott sei Dank nicht. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner gehören zur Höchstrisikogruppe, allerdings gab es wohl auch schon Infizierte aus dieser Gruppe, die symptomfrei blieben. Das Virus sorgt immer wieder für Überraschungen.

 

Sind Corona-Patienten zum Sterben zu Ihnen gebracht worden?
Fuchs: Das geht nicht, weil gesetzlich festgelegt ist, dass wir keine Patienten aufnehmen dürfen, die infiziert und/oder durch das Virus erkrankt sind. Sie bleiben in den Krankenhäusern bis zum Lebensende oder bis die Erkrankung ausgeheilt ist.

 

Wie kann man jemandem beim Sterben helfen, wenn man Abstand halten und einen Mund-Nasen-Schutz und Handschuhe tragen muss?
Fuchs: Das ist eine Diskrepanz. Bei uns geht es viel um Trost. Das kann manchmal bedeuten, einfach nur die Hand auf den Arm zu legen, um zu zeigen, ich bin bei dir. Diese Geste kann mit einmal zu einer potenziellen Gefährdung werden.

 

Behindert es Sie auch bei der Begleitung der Angehörigen?
Steinhauser: Wir haben damit zu kämpfen, was dürfen wir bei Trauerfeiern und Bestattungen. Das ist für die Betroffenen meist hochemotional. Ich muss wie meine Kollegin jeweils abwägen, was können wir im Einzelfall machen und wie bleibt der Schutz für alle gewährleistet. Ich führe ständig Gespräche mit Angehörigen, die in Not sind, weil wir gegenwärtig z. B. keine Trauerfeiern mit vielen Gästen durchführen dürfen. Das setzt mir zu. Aber bei allem Schmerz ist es im Moment mit Blick auf die Allgemeinheit die einzig vertretbare Entscheidung, nur eine begrenzte Zahl von Trauenden zuzulassen.

 

Auch da gibt es Lockerungen.
Steinhauser: Zum Glück. Wir hatten vor einigen Wochen die Beisetzung eines älteren Hamburgers mit großem Freundeskreis. Da waren nur drei Trauernde am Grab, andere, die gedurft hätten, haben sich nicht getraut, weil sie hochbetagt sind. Wir überlegen nun, mit den Angehörigen und Freunden später eine Gedenkfeier zu organisieren. Es ist jetzt viel Kreativität gefordert. Aber schön sind diese Entscheidungen nicht.

 

Was bedeutet es für die Sterbenden, ihre Angehörigen und Freunde, wenn sie jetzt nicht voneinander Abschied nehmen können?
Steinhauser: Das kann man nicht nachholen, das ist ein Riesendilemma. Und das gilt nicht nur für an Corona Erkrankte. Ich hatte Gespräche mit Trauernden, die ihren dementen Vater im Pflegeheim nicht besuchen durften, und als er dann an Corona erkrankte und verstarb, konnte er nicht begleitet werden. Die Angehörigen durften nicht einmal am offenen Sarg Abschied nehmen, weil der Verstorbene positiv getestet war. Das quält die Angehörigen, weil sie nicht wissen, wie es dem Vater am Lebensende ging, ob sie noch etwas für ihn hätten tun können, und sie ihn nicht mehr sehen konnten. Das ist ein großer Schmerz und für uns als Trauerbegleitende eine zusätzliche Herausforderung.

 

Fuchs: Auch bei uns im Hospiz ist es sehr wichtig, Angehörigen und Freunden den Abschied erfahrbar zu machen. Der Tod ist etwas Abstraktes. Wie fühlt sich das an, wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist? Es kann der erste Schritt für einen heilsamen Abschied sein, bei einem Verstorbenen am Bett zu sitzen und zu sehen, wie sich der Körper verändert.

 

Nehmen jetzt mehr Menschen Ihre Angebote der Trauerbegleitung wahr?
Steinhauser: Eher weniger. Auch Beratungsstellen und Therapeuten berichten, dass sich im Moment weniger Menschen an sie wenden. Das könnte auch damit zu tun haben, dass für viele gegenwärtig das eigene Überleben Vorrang hat. Solange dieses nicht gesichert ist, kann das auch die Trauer um geliebte Menschen, die verstorben sind, überlagern.

 

Es wird sehr kontrovers diskutiert, ob man alte, vorerkrankte, morbide Menschen, die ohnehin nicht mehr lange zu leben haben, vor dem Virus schützen muss um den Preis, das Leben aller einzuschränken. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat darauf hingewiesen, dass der Lebensschutz nicht über allem stehe. Wie sehen Sie das?
Steinhauser: Der Schutz von Leben steht aus meiner Sicht obenan. Deshalb halte ich mich auch zurück, einzelne Maßnahmen zu kritisieren. Es ist ein so großes Bemühen da, Leben zu schützen, Alte, Junge, Kinder, dass klar ist, das kommt an oberster Stelle. Ich habe Hochachtung, dass so viele Menschen bereit sind, sich zu begrenzen, um sich und andere zu schützen.

 

Fuchs: Es ist im Großen wie im Kleinen ein Herantasten an Kriterien, an Wertigkeiten. Welchen Preis sind wir bereit für was zu zahlen. Die Hospizarbeit hat in Deutschland später begonnen als in anderen Ländern aufgrund unserer Geschichte. Dürfen wir ein Sterben beschleunigen, darf ein Arzt eine Auswahl treffen, diese Dame ist 86, ich beatme sie nicht mehr – das ist bei uns alles durch die Euthanasie der Nazis belastet. Wir haben dafür gekämpft, nicht zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben zu unterscheiden. Auf einmal stehen wir an einem Punkt, wo wir das wieder entscheiden sollen.

 

Vielleicht muss man einfach aushalten, dass es darauf keine Antwort gibt?
Fuchs: Ja, jeder Einzelne ist genauso viel wert, egal wie alt und krank er oder sie ist.

 

Es wird wenig darüber gesprochen, was es für schwer an Corona Erkrankte bedeutet, wenn sie über Wochen beatmet werden und dann doch oft sterben. Isoliert, einsam, ohne Begleitung und ins künstliche Koma versetzt, also ohne Bewusstsein. Wäre es nicht humaner, die, die nicht zu retten sind, im Hospiz oder daheim sterben zu lassen, unter Infektionsschutz, aber im Kreis ihrer Lieben?
Fuchs: Es gibt in diesen Fällen sicher nicht mehr die Zeit, sie woandershin zu verlegen, abgesehen davon, dass es nicht erlaubt ist. Mit dem Einstellen der Beatmung wird der Sterbeprozess eingeleitet. Man müsste eher überlegen, wie man dann einen Abschied ermöglicht. Sterbesituationen sind im Gesetz vom Besuchsverbot ausgenommen. Die Einrichtungen müssen dann entscheiden, wieweit sie Besuche zulassen. Der Gesetzgeber hat das bewusst offengelassen. Das nutzen wir in unserem Hospiz, um die Regelungen etwas weiter auszulegen. Es sollte aber auch jeder für sich überlegen, was er für sich wünscht für den Fall, dass er schwer erkrankt, und eine Patientenverfügung machen. Corona ist zunächst mal eine akute Erkrankung, die an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen appelliert.

 

Ist der gesellschaftliche Druck nicht so groß, jeden zu beatmen, um ihn zu retten?
Steinhauser: Es kann jeder jeder Maßnahme widersprechen.

 

Aber nicht mehr, wenn er ins Koma versetzt ist.
Steinhauser: Jeder sollte es vorher schriftlich festlegen. Pflegeeinrichtungen haben damit begonnen, ihre Bewohner zu befragen, ob sie bei einer Infektion in eine Klinik verlegt werden wollen oder ob sie dort bleiben und im Fall des Falles versterben möchten. Die Einrichtungen folgen diesen Verfügungen und auch für Ärzte sind sie bindend.

 

Was würden Sie sich selbst wünschen, wenn es Sie beträfe?
Fuchs: Ich würde wünschen, dass medizinisch alles getan wird, weil die Infektion noch so unberechenbar ist. Man kann sehr gut gesunden. Ich würde daher, obwohl ich sonst da sehr skeptisch bin, auch beatmet werden wollen. Ich hätte auch nicht so viel Angst davor, alleine zu sterben. Aber ich würde mir Gedanken um meine An- und Zugehörigen machen, weil es ihnen sicher zu schaffen machte, von mir nicht gut begleitet Abschied nehmen zu können.

 

Steinhauser: Bei mir ist das ein bisschen anders. Ich habe ein hohes Vertrauen in die Mediziner und würde mich nicht generell gegen eine Intensivbehandlung wehren. Mir wäre aber wichtig, in jeder Situation entscheiden zu können, möchte ich diesen Schritt noch gehen oder nicht. Dieses Selbstbestimmungsrecht möchte ich nicht verlieren. Wenn ich wüsste, dass das gewährleistet ist, würde ich mich gut aufgehoben fühlen.

 

Also Autonomie bis zum Lebensende?
Steinhauser: Ich finde es generell wichtig, dass wir die Menschen viel mehr einbeziehen. Allen Medizinern und Pflegekräften sollte bewusst sein, dass Patienten autonome Wesen sind, die nicht nur wissen müssen, sondern auch entscheiden können müssen, was mit ihnen geschieht. Es ist nicht immer leicht, gegenüber manchen Ärzten durchzusetzen, dass ein Mensch nicht um jeden Preis leben möchte, auch wenn es vielleicht noch die Chance auf Lebensverlängerung gibt.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.


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