Leben im Einklang mit der Natur

Indigener ökologischer Widerstand in Brasilien

Nachdem Glicéria Tupinambá den Tupinambá-Mantel zum ersten Mal im Musée du Quai Branly in Paris gesehen hatte, erschien er ihr im Traum und sprach zu ihr: Erst wenn das Volk der Tupinambá in sein heiliges Land zurückgekehrt und der Mantel wieder mit diesem Land vereint wäre, würde er wahrhaftig von Neuem existieren. Jahrhundertelang war der heilige Mantel der Tupinambá verschollen, um dann in einigen wenigen europäischen Museen aufzutauchen. Dank der außerordentlichen künstlerischen Arbeit von Glicéria Tupinambá aus der Gemeinde Serra do Padeiro im Süden von Bahia, die sich umgeben von den verheerenden Auswirkungen der Pandemie letztes Jahr daran machte, den Mantel neu zu erschaffen, existiert er nun endlich wieder.

 

Mit 60.000 Fällen, über 1.200 Toten und Infektionen bei Angehörigen von 163 verschiedenen Ethnien war die indigene Bevölkerung Brasiliens überdurchschnittlich stark von der Coronapandemie betroffen. Aussagen der indigenen Bewegung APIB zufolge wurde die Übertragung des Virus in manchen Fällen direkt von Bundesbeamten veranlasst. Mit der gesundheitlichen Katastrophe gingen zudem zahlreiche Angriffe von offizieller Seite einher. So bezeichnete die Regierung die Pandemie als „Gelegenheit“, um verfassungsrechtlich verankerte Umweltrechte und Rechte von Gebietskörperschaften zu schwächen und nutzte halblegale Mittel, um diese Rechte zu untergraben. Oder sie sieht die Pandemie, wie ich bereits einmal schrieb, als gnadenlose „Gelegenheit“ für einen Genozid. Das Virus hat viele angesehene Anführer, Häuptlinge und Schamanen, lebende Annalen des Waldes und der kollektiven Erfahrungen, brutal aus dem Leben gerissen.

 

Gesellschaftliche Bewegung zur Wiederbesiedlung der Kolonial-gebiete

Der heilige Mantel und die Bewegung, die sich für die Wiederbesiedlung des angestammten Landes durch die indigene Ethnie der Tupinambá einsetzt, sind nur zwei Aspekte eines intensiven politischen Kampfes. Die Heimat der Tupinambá ist der atlantische Regenwald im Nordosten Brasiliens, der von der Kolonialisierung besonders stark betroffen war – heute sind nur noch sieben Prozent des ursprünglichen Regenwalds erhalten. Als Teil einer Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, neue Formen des menschlichen Daseins in einer postkolonialistischen, postkapitalistischen und postanthropozänen Welt zu ersinnen, versuchen Glicéria und die Tupinambá einen Brückenschlag zwischen der Welt der Kunst und einem vielschichtigen politischen Kampf.

 

In einem seiner Gedichte beschreibt der interdisziplinär arbeitende indigene Künstler Denilson Baniwa die Entstehung einer neuen Welt:

Todo território colonial / Antes de tudo é ancestral / Quando raspadas toda escória / Plástico, asfalto, metal / Histórias não contadas na História / O sangue oxigena / Quem sempre foi daqui sabe / SP sempre foi / Terra Indígena

Jedes kolonialisierte Land / Ist vor allem angestammtes Land / Wenn erst aller Dreck abgekratzt ist / Kunststoff, Asphalt, Metall / Unerzählte Geschichten der Geschichte / Füllt Sauerstoff das Blut / Jene, die immer hier lebten, wissen: / São Paulo war immer / indigenes Land

 

Dieses Gedicht entstand nur wenige Monate vor Ausbruch der Pandemie im Rahmen einer Veranstaltung auf der angesehensten Straße von São Paulo, der Avenida Paulista, um daran zu erinnern, dass all die riesigen Gebäude, die nun die Landschaft prägen, auf kolonialisiertem Land errichtet wurden, das einst heiliges Land indigener Bevölkerungen war. Was bleibt, wenn die Asche des Kolonialismus von der Erdoberfläche beseitigt ist, ist keine Sache der Vergangenheit, sondern eine neue Welt, die den Himmel trägt.

 

Die Macht von Kunst und Kultur

 

Nach jahrhundertelanger systematischer Unterdrückung und Auslöschung schafft indigene Kunst nun langsam ein Bewusstsein nicht nur für den Genozid sondern auch für den Epistemozid, die Auslöschung des Wissens. Diese mächtige, von Indigenen geschaffene Kunst, oder wie der indigene Künstler Jaider Esbell es nennt, „zeitgenössische indigene Kunst“, ist antikolonialistisch ausgerichtet und tief in verschiedenen ontologischen Anschauungsweisen verwurzelt, die zum Wiederaufbau von Beziehungen zu anderen Lebewesen auf der Erde aufrufen. Darüber hinaus erinnert die revolutionäre Perspektive der indigenen Kunst an die politische Brisanz der Aussagen von Amílcar Cabral. Der berühmte afrikanische Unabhängigkeitskämpfer und Politiker verdeutlichte die Wichtigkeit dessen, „die Geschichtsdarstellung der Kolonialregimes zu zerlegen“, und vertrat den revolutionären ökologischen Ansatz, dass „die Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umwelt verstanden werden müssen“.

 

Als Anführer der Bewegung, die sich für die Befreiung von Guinea Bissau und Kap Verde einsetzte, war Amílcar Cabral bewusst, dass Kultur und Geschichte untrennbar miteinander verbunden sind und unterstrich die Macht der Kultur als revolutionäres Mittel im Kampf um kollektive Autonomie. Dasselbe gilt auch für Brasilien und andere Regionen dieser Welt, die versuchen, die katastrophalen ökologischen Folgen des Kolonialismus zu beheben.

 

Historisch gesehen nimmt der ökologische Schaden mit der Entmenschlichung indigener Völker und der Entweihung von heiligem Land seinen Anfang. Dadurch verwandeln sich die Gebiete in Ressourcen, die ausgebeutet werden, und Körper, die zu Zwangsarbeit gezwungen werden. Indigene Schamanen und Philosophen sind sich dieses Prozesses seit der Ankunft der Europäer bewusst, so wie es von Chronisten wie dem französischen Calvinisten Jean de Léry berichtet wird, als er im 16. Jahrhundert mit einem Ältesten der Tupinambá sprach, der ihm Folgendes mitteilte: „Wir haben Angehörige und Kinder, die wir lieben und in Ehren halten. Aber da wir sicher sind, dass nach unserem Tod die Erde, die uns versorgte, auch für sie sorgen wird, können wir ruhig schlafen und machen uns keine weiteren Sorgen darüber.“

 

Kunst und Kultur stellen mächtige Werkzeuge im Kampf gegen den Kolonialismus und beim Wiederaufbau und der Neuschaffung zerstörter Welten dar, wie Ailton Krenak die politischen Konzepte für ein Leben nach dem Genozid und Ökozid nach der Eroberung bezeichnet. In diesem Sinne wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Another Sky“ versucht, indigene Kunst mit dem Training indigener Studierender zu verbinden. Sie lernten Verletzungen von Rechten indigener Volksgruppen zu kartieren. Durch die kartografische Darstellung des Zusammenhangs zwischen dem gewalttätigen Abbau von Rohstoffen und dem ökologischen Widerstand konnte aufgezeigt werden, dass die angestammten Gebiete indigener Völker Gebiete des Widerstands gegen die Eroberung und gegen die Kolonialgewalt, der Wiedereroberung, der Wiederbesetzung, der Schöpfung und Neuschaffung von Welten und Kunst sind.

 

Im Zuge der Pandemie entwickelte sich die Kunst zu einem mächtigen Instrument, um Gemeinschaften zu mobilisieren und Zugang zur Spiritualität zu finden, beispielsweise mithilfe schamanischer Lieder und Tänze, die dazu dienen, Schutz für die Körper oder Heilung zu erbitten und die Erde zu besänftigen. Der von der Künstlerin Glicéria geschaffene Tupinambá-Mantel – ein kosmologisches Kunstwerk – brachte nicht nur einen Sinn für ästhetische Schönheit in die Gemeinschaft, sondern auch Stolz und die Erkenntnis, dass Kunst die Verbindung zwischen Schönheit und den ökologischen Lebensbedingungen herstellen kann, die sie nur durch politischen Kampf, sowie Besetzung und Pflege ihres Waldes erreichen können.

 

Das Ende des Anthropozän?

 

„Der ökologische Kollaps bedroht nicht nur indigene Gemeinschaften, es handelt sich um eine globale Krise. Diese hat nun auch Gesellschaftsschichten erfasst, die sich bisher nicht damit auseinandersetzen mussten. In diesem Sinne bringt die Sorge um die Umwelt die zerstörte Welt indigener Bevölkerungsgruppen in Verbindung mit der Frage, wie wir in einer zerstörten Welt leben können“, erklärt Felipe Tuxá. Indigene Bevölkerungen, die „Opfer und Revolutionäre“ des Anthropozäns, haben bewiesen, wie eine nachhaltige Lebensweise aussehen könnte, was ihnen nun die Aufmerksamkeit von Außenstehenden – den „Anthropozänisten“ – eingebracht hat. Als indigener Anthropologe fragt sich Tuxá: „Handelt es sich dabei um echtes oder um eigennütziges Interesse?“

 

Indigene Kunst, politische und kosmologische Kämpfe sowie auf die Dekolonialisierung ausgerichtete Epistemologie helfen die Kritik am Anthropozän, in dem der aktuelle Klimanotstand seinen Ursprung hat, zu konkretisieren.

 

Die von Tuxá gestellte Frage bezüglich des Interesses an indigenen Bevölkerungen wird über die UN-Klimakonferenz COP26 in Glasgow hinaus sicher von Bedeutung sein: Besteht ein echtes Interesse daran, die Herausforderungen zu bewältigen, denen sich die nächsten Generationen von indigenen Gemeinschaften beim Kampf ums Überleben gegenübersehen?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.

Felipe Milanez
Felipe Milanez ist politischer Ökologe und Professor am Institut für Geisteswissenschaften, Künste und Wissenschaften der Bundesuniversität von Bahia, Brasilien.
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