„Alles bricht weg“

Die Freie Szene in Berlin und Hamburg bangt um ihre Existenz, arbeitet aber unter Corona-Bedingungen weiter

Amelie Deuflhard, Intendantin von Kampnagel, der größten Hamburger Spielstätte für experimentelles Theater, Tanz und Weltmusik in einer ehemaligen Kranfabrik, hat schon Tage und Wochen voller Krisenberatungen hinter sich. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Gerade kommt sie aus einer Videokonferenz mit 60 ihrer 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Als ich sie am Handy erwische, ist sie kurz Luft schnappen und bittet, am nächsten Tag wieder anzurufen. „Ich kann nicht mehr reden.“ Am Morgen darauf wirkt sie trotz aller Anspannung keineswegs niedergeschlagen, aber äußerst besorgt. „Wir fahren bislang alles so herunter, dass wir im Mai wieder starten könnten. Aber ich fürchte, wir werden wie andere auch alle Veranstaltungen mindestens für Mai absagen müssen.“ Vielleicht auch das Sommerfestival im August.

 

Sie sorgt sich um die Künstler, wie sie über die Runden kommen sollen ohne Einnahmen, da nun alle Bühnen, alle Spielstätten wegen Corona geschlossen und alle Auftritte, alle Aufführungen und Festivals für die nächste Zeit abgesagt sind. Aber natürlich auch um ihr Haus, weil die Programme oft lange Vorlaufzeiten haben. „Egal was wir machen, es ist verkehrt: Wenn wir alles abblasen, können wir im Herbst das Programm vergessen. Wenn nicht, bleiben wir auf den Kosten sitzen. Wir reden deshalb mit den Künstlern, um Lösungen zu finden. Unsere Strategie: möglichst nichts absagen, sondern auf die nächste Saison verschieben.“

 

Das hat auch mit der Rettungspolitik der Hansestadt zu tun. Kultursenator Carsten Brosda (SPD) hat sofort zugesichert, dass nicht nur die freien Künstler wie andere Freiberufler, wie Betriebe und große Unternehmem Soforthilfen des Senats von 25 Millionen Euro und KfW-Kredite bekommen sollen, zusätzlich zu den Bundesmitteln, sondern dass auch die Projektförderungen neben den institutionellen bestehen bleiben, selbst wenn vorerst keine Aufführungen stattfinden können. „Drei, vier Monate können wir so überbrücken. Aber wenn es länger dauert? Und was wird aus den Kreativen aus aller Welt? Bei uns treten Gruppen aus Chile oder Nigeria auf. Auch an die muss man denken. Wer zahlt denen ihre Verdienstausfälle?“, fragt sich die Kampnagel-Chefin ratlos.

 

Die schon immer prekär lebenden Freien nicht nur in Hamburg trifft es oft mehrfach. Viele geben Kurse, machen Workshops, halten Vorträge oder unterrichten an der Volkshochschule. Auch das ist nun alles weg. „Da geht nichts mehr“, sagt Deuflhard. Theater-Restaurants, Clubs, Musikkneipen sind ebenso betroffen, ohne die die Freie Szene nicht leben kann. „Ein Großteil der Kreativwirtschaft steht vor dem Aus. Da bricht alles weg.“

 

Noch härter trifft es Berlin, wo schätzungsweise 40.000 bis 50.000 Kreative ohne feste Stellen leben und arbeiten. Ein wichtiger Faktor für die weltweite Anziehungskraft der Hauptstadt und auch für die lokale Wirtschaft. Das Hilfsprogramm des rot-rot-grünen Senats für Freiberufler und freie Künstler von 100 Millionen Euro sieht man in der Szene jedoch kritisch. „Kredite sind keine Lösung“, sagt Julia Schell, Sprecherin der Koalition der Freien Szene Berlin, des Dachverbands aller Sparten. „Freie Künstler und Künstlerinnen können keine Rücklagen bilden und die Zinsen nicht zahlen. Was wir brauchen, sind Zuschüsse ohne Einzelnachweise, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Der Nachweis einer künstlerischen Vita muss genügen.“

 

Genau solche Detailprüfungen und seitenlange Antragsformulare sehen jedoch die Vorgaben von Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) vor. Die Künstler sollen nachweisen oder glaubhaft machen, dass der in Aussicht gestellte Zuschuss von bis zu 5.000 Euro pro Person zur Sicherung der beruflichen bzw. betrieblichen Existenz erforderlich ist; sie müssen zudem zuvor Gelder aus den Hilfsprogrammen des Bundes und aus sozialen Sicherungen wie Kurzarbeitergeld, auf die sie in der Regel gar keinen Anspruch haben, oder Grundsicherung beantragen. Überdies soll dies später überprüft werden, um Über- oder Doppelkompensationen zu vermeiden. „Hartz IV ist kein Weg“, erwidert Schell. „Die Jobcenter sind zu und ohnehin überlastet. Die Anträge müssten erst geprüft werden, die Kulturschaffenden müssen aber jetzt ihre Mieten und sonstigen Verpflichtungen zahlen. Außerdem gefährdet Hartz IV spätere Rentenansprüche. Und Nicht-EU-Bürger und -Bürgerinnen bekämen womöglich Probleme bei ihrem Aufenthalt.“

 

Die Freie Szene Berlin unterstützt deshalb die Forderung des Deutschen Kulturrates nach einem Grundeinkommen für alle Künstler. „Das gäbe den Freien die größte Sicherheit. Dann können wir Kunst für alle gerne auch kostenlos ins Netz stellen“, sagt Schell. Die Künstler müssen außerdem Mieten für Projekt- und Übungsräume, für Studios und Ausstellungsflächen zahlen. Auch dafür müsse es Bestandsschutz geben wie für Privatwohnungen.

 

Neben der akuten Bewältigung der Krise machen sich viele Künstler schon Gedanken, wie sie sie kreativ verarbeiten können – und auf welchen Wegen, solange der Ausnahmezustand herrscht, etwa im Netz oder in den jetzt weitgehend menschenleeren Geisterstädten. „Die Freie Szene geht mit virtueller Kunst schon immer entspannter um als etablierte Theater“, sagt Janina Benduski vom Landesverband freie darstellende Künste Berlin (LAFT). „Gruppen machen z. B. künstlerische Stadtspaziergänge ergänzt mit VR/AR und überlegen jetzt, auch weitere Aufführungsformate für online zu entwickeln.“ Das Festival Performing Arts Ende Mai, das Benduski als Dramaturgin und Produzentin organisiert, will sie mit ihrem kleinen Team in eine andere Form umwandeln. „Wenn wir das zum jetzigen Zeitpunkt absagen, müsste ich fast alle Mitarbeiter entlassen.“ Denn im Rahmen der Projektförderung dürfte sie sie dann in Berlin, anders als in Hamburg, nicht weiter beschäftigen.

 

Oliver Möst, Sprecher des Netzwerks freier Berliner Projekträume und -initiativen, berichtet von Online-Eröffnungen, die jetzt schon laufen: „Künstler performen zu Hause, fotografieren ihre Arbeiten, machen Videos und Podcasts mit Klangkunst, geben Statements ab, und stellen das ins Netz. Wir schaffen dafür eine Plattform.“ Ein Problem jedoch: „Die Kunsträume reflektieren in ihre jeweilige Umgebung. Das Publikum kommt von dort, etwa bei einer Installation in Marzahn. Online funktioniert das nicht.“

 

Auch Deuflhard bereitet mit ihrem Kampnagel-Team in Hamburg neue Kulturformen vor. „Wir könnten die ganze Stadt als Bühne nutzen, spielen und musizieren vom Balkon, wie es das auch früher schon gab, die Kunst in den öffentlichen Raum tragen.“ Das Wichtigste ist ihr jedoch erst einmal, dass Kunst auch in dieser Krisenzeit als Grundversorgung und Teil der Gesellschaftspolitik betrachtet wird, und dass die Kulturschaffenden bei den Hilfsprogrammen deshalb sofort mit berücksichtigt wurden. „Das ist ein Riesenfortschritt. Vor zehn Jahren hätte es das nicht gegeben.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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