Ein kurzes langes Wort

Literatur aus Georgien

AI IA. Das sind die ersten Worte unserer Fibel, die „Muttersprache“ heißt. Das sind die ersten Worte, die jeder Georgier als Erstes gelesen und geschrieben hat.

 

Lesen Sie georgisch? Es ist doch so leicht. Man braucht nur zwei Buchstaben zu kennen und schon hat man einen ganzen Satz. Da ist ein A, und da ist ein I, und wenn da AI IA steht, heißt das „Hier ist ein Veilchen“.

 

Schon lesen Sie georgisch. Ganz einfach.
Aber wir beginnen nicht damit. Die Geschichte der georgischen Literatur beginnt im 5. Jahrhundert, und gleich mit einem Roman: „Das Martyrium der Heiligen Schuschanik“.

 

Der Autor, Jakob Zurtaweli, war der Beichtvater der Heiligen und – was ich viel wichtiger finde – ein wirklich großer Schriftsteller. Nicht, dass ich etwas gegen Hagiografie habe, aber die lesen ja heutzutage nur die Literaturwissenschaftler, für einen „normalen“ Leser ist das ein bisschen zu kompliziert und auch langweilig. Die Geschichte der heiligen Schuschanik steht jenseits aller Regeln und Genregrenzen. Brennende Leidenschaft, das ewige Thema – Frau und Mann, fantastische Dialoge – ich bin zutiefst überzeugt, dass das der beste Roman ist, der irgendwann in georgischer Sprache geschrieben wurde.

 

Das ist also der Anfang. Ich kann mir schwer vorstellen, wie wir es schaffen, 15 Jahrhunderte georgischer Literatur zu präsentieren. Das macht das Georgische Nationale Buchzentrum viel besser als ich. Ich gehe einen anderen Weg.

 

Ich liebe Fantasy. Darum tut es mir leid, dass wir praktisch keine Fantasy-Literatur haben, auch keine wissenschaftliche Fantastik, nur eine Handvoll Titel, die in den letzten Jahren herausgegeben worden sind. Warum das so ist – ich weiß es nicht. Ich neige zu dem Gedanken, dass die Grenze zwischen Realität und einer ausgedachten, einer Zauberwelt in meinem Land sehr verschwommen ist und man den Unterschied nicht besonders fühlt. Also, wir haben zwar eine reiche Märchenwelt und wunderbare Sagen, aber so ordentlich wurde das nicht bearbeitet.

 

Georgische Kriminalromane trifft man ebenfalls selten an. Das ist viel leichter zu erklären: Seitdem die Menschheit solche Bücher schreibt, war Georgien erst Teil des Russischen Reiches, danach ein Teil der Sowjetunion, danach überlebte es eine furchtbare Zeit der Wende, und kein ordentlicher Schriftsteller würde sich erlauben, einen russischen oder im Dienst des russischen Staates stehenden Vermittler oder Polizisten siegen zu lassen. Sowas ging nicht, vielleicht nur in ein paar Büchern, die gerade deswegen kein Mensch mehr kennt.

 

Noch eine Art der Literatur, die mir in Georgisch fehlt, sind die Horror-Romane. Mir scheint, das ist sehr natürlich: Wenn ein Alltag Horror ist, denkt man sich keinen mehr aus. Braucht man nicht. Ängste und Grusel waren sowieso ein Teil des Alltags, und man trifft sie praktisch in jedem Buch der Autoren, die zur Neuen georgischen Literatur gehören.

 

Alle aufgezählten Arten des Schreibens findet man vereint in den Werken eines Autors meiner Generation, Aka Morchiladze. Mit ihm beginnt die „Neue georgische Literatur“, mit seinem ersten Roman „Die Reise nach Karabach“. In seinen Büchern treffen Sie die guten Geister des Tiflisser Bezirkes Wake, Sie landen auf Inseln im Schwarzen Meer, das gar keine Inseln hat, Sie suchen nach dem Mörder des besten Malers der Stadt Tiflis und fliegen deswegen über Madatow – und zurück. Sie lesen vom Bürgerkrieg und absurden Konflikten zwischen Nachbarländern, dem großen Friedhof der Träume, von Jungen, die nie erwachsen werden, und Frauen, die kein Glück finden werden, von Tod und Liebe in einem zerstörten Land. Wenn Sie Georgien kennenlernen möchten und nur bei dem Gedanken, 15 Jahrhunderte Literatur zu lesen, in Panik verfallen, lesen Sie zuerst Aka Morchiladze. Dann werden Sie weiterlesen, da bin ich mir sicher.

 

Damals, 1997, haben Lasha Bakradze und ich nur gespielt, dass da und dort jetzt Aka liest. Jetzt wird er lesen. Ich gehe zu jeder Lesung, kommen auch Sie vorbei! Dann treffen wir uns und können uns über alles unterhalten: über das Gute und Böse, über Krieg und Frieden und über meine liebe georgische Literatur. Wir erwarten Sie.

 

Der Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

Anna Kordsaia-Samadaschwili
Anna Kordsaia-Samadaschwili arbeitet als Übersetzerin und Kulturjournalistin. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben und Literatur an der Staatlichen Ilia-Universität Tiflis. Für ihre Erzählungen und Romane wurde sie mit verschiedenen georgischen Literaturpreisen ausgezeichnet.
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