Ein kurzes langes Wort

Literatur aus Georgien

Der erste direkte Flug aus Georgien nach Europa war Tiflis – Frankfurt am Main. Ab 1995 flog das Flugzeug, wenn ich mich jetzt richtig erinnere, zweimal pro Woche. Ich flog damit vier bis fünfmal pro Jahr, und jedes Mal, wenn die Maschine in Frankfurt landete, dachte ich mir: Ich hab’s wieder geschafft. Bravo, Anna. Und Gott sei Dank.

 

Nicht, dass ich meine Heimat nicht mag, ganz im Gegenteil. Bloß waren die 1990er Jahre für meine liebe Heimat etwas ganz Besonderes – ein Vorort der Hölle. Und die Tatsache, dass immer Krieg war – d. h. Not, Angst und Anspannung, kein Strom, keine Heizung, keine Arbeit und dementsprechend kein Geld – ging mir, wie wahrscheinlich jedem, auf die Nerven. Entsprechend war ich mit jedem Angebot aus Europa einverstanden. Ich bekam, wenn ich jetzt daran denke, wirklich lächerliche Stipendien und Förderungen, hielt Vorträge, die ich heute um kein Geld der Welt vorbereiten würde, aber zu jener Zeit freute ich mich über solche Vorschläge. Hauptsache, ich war kurze Zeit im Freien. In Europa. Eigentlich überlebte ich damals nur dank der Tatsache, dass der Mensch im Grunde ein gutes Wesen ist. Das weiß ich seitdem ganz genau.

 

Ich flog also nach Europa über Frankfurt am Main. Meistens nach Berlin. Das Flugzeug landete gegen Mittag, und bis zur Abfahrt des Zuges nach Berlin lief ich in der Stadt herum – das war wunderbar. Frieden. Nach immerhin schon drei Kriegen in meinem damals noch nicht langen Leben war das ein seltsames Gefühl. Ich setzte mich bei der Hauptwache hin und genehmigte mir eine – meistens die einzige – große Mahlzeit der Reise: Frankfurter Grüne Soße. Ich mag sie zwar nicht, aber das gehörte zum Ritual: Ich bin in Frankfurt, also gibt es Grüne Soße. Das mache ich auch heute noch, wenn ich da bin, und das gefällt mir. Schön ist das Leben.

 

Einmal war ich in Frankfurt während der Buchmesse. Reiner Zufall. Ich hatte vorher in Georgien bei einem komischen Seminar einen sehr netten Herren kennengelernt, und er fragte mich, ob ich Zeit und Lust hätte, einmal eine richtige, große Buchmesse zu sehen, und ich sagte natürlich: „Ja!“

 

Das war dann also die Messe, meine erste Frankfurter Buchmesse, und was mit mir passierte, kennt jeder, der sich an seine erste Messe erinnern kann. Damals schrieb ich nicht, hatte dort beruflich nichts zu tun, und es war sehr schön, einfach nur Gast zu sein.

 

Damals spielten ich und mein lieber Freund Lasha Bakradze ein Spiel. Wir dachten uns aus, dass nicht Portugal das Gastland wäre, sondern Georgien. Ich fragte: „Da und da liest Aka Morchiladze, ja, Lasha?“. Er antwortete: „Jawohl, und dort ist jetzt die Lesung“. Ich: „Glaubst du? Er ist doch noch jung, und obwohl er der Beste ist … „. „Wir sind das Gastland“, sagte Lasha, „also lesen die, die wir auswählen.“ Ich entgegnete: „Ja, du hast recht, wir sind ja Gastland.“

 

Und als Gastland hatten wir Ausstellungen in der ganzen Stadt: In der Schirn-Kunsthalle zeigten wir die Arbeiten der Zehnten Etage, im Kinomuseum lief an dem Tag … Was lief dort an dem Tag, Lasha? Ich hab’s schon vergessen.

 

Es war ein gutes Spiel, aber nur ein Spiel. Damals, 1997, wussten wir nicht, dass Wünsche eine Eigenschaft haben: Sie erfüllen sich.
Jetzt, nach 21 Jahren, werden wir nicht mehr spielen. Jetzt ist das schon Ernst. Wir sind Gastland.
***

 

Man stellte mir einmal eine Frage, die mich völlig verwirrt hat: „Warum muss man georgische Literatur lesen?“ Man muss nicht. Man muss auch keine andere Literatur lesen, das ist doch keine Pflicht. Bloß, denke ich mir, wäre die schöne, farbige Welt ein bisschen langweiliger, wenn es keine Literatur gäbe, und die georgische gehört auch zu diesem bunten Teppich. Vielleicht nur ein Faden, aber der ist so schön …

 

Georgier sind sehr stolz auf ihre Literatur. Sogar bei dem Ungebildetsten bemerkt man diesen Stolz. Kein Zufall, dass bei der Umfrage, wen die Georgier als größten Georgier nennen würden, Ilia Tschawtschawadse gewonnen hat, ein Schriftsteller, Dichter, Denker und noch vieles mehr, aber die Hauptsache ist und bleibt seine Literatur.

 

Ohne „Der Recken im Tigerfell“ würde Georgien zwar wahrscheinlich existieren, aber es wäre ganz anders. Es gibt keinen georgischen Autor, den Schota Rustawelis Poem nicht beeinflusst hat. Das im 12. Jahrhundert geschriebene Buch bleibt bis heute das Wichtigste, was Georgien hat. Etwas wie eine Bibel für das Abendland: kann sein, jemand hat sie nicht durchstudiert, aber man lebt damit, denn alles drum herum ist irgendwie mit ihr verbunden. Als Georgier definiert man Liebe, Freundschaft, Treue, Würde, wie auch Verrat, Krieg und das große Böse so, wie „Der Recke im Tigerfell“ davon erzählt.

 

Und in diesem wunderbaren Buch steht, wenn ein langes Wort kurz gesagt wird, dann ist es gut. Da ich ganz genau weiß, dass mein Schota schon immer Recht hatte, bemühe ich mich, das Ganze kurz zu erzählen.

 

Ich werde nicht davon erzählen, dass die ganze georgische Literatur über die Frauen, für die Frauen und wegen der Frauen geschrieben worden ist. Ich werde nichts davon schreiben, wie wunderbar die georgische Poesie ist. Ich spreche nicht über die großen Romane und die guten Erzählungen – das werden Sie selbst sehen und beurteilen.
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AI IA. Das sind die ersten Worte unserer Fibel, die „Muttersprache“ heißt. Das sind die ersten Worte, die jeder Georgier als Erstes gelesen und geschrieben hat.

 

Lesen Sie georgisch? Es ist doch so leicht. Man braucht nur zwei Buchstaben zu kennen und schon hat man einen ganzen Satz. Da ist ein A, und da ist ein I, und wenn da AI IA steht, heißt das „Hier ist ein Veilchen“.

 

Schon lesen Sie georgisch. Ganz einfach.
Aber wir beginnen nicht damit. Die Geschichte der georgischen Literatur beginnt im 5. Jahrhundert, und gleich mit einem Roman: „Das Martyrium der Heiligen Schuschanik“.

 

Der Autor, Jakob Zurtaweli, war der Beichtvater der Heiligen und – was ich viel wichtiger finde – ein wirklich großer Schriftsteller. Nicht, dass ich etwas gegen Hagiografie habe, aber die lesen ja heutzutage nur die Literaturwissenschaftler, für einen „normalen“ Leser ist das ein bisschen zu kompliziert und auch langweilig. Die Geschichte der heiligen Schuschanik steht jenseits aller Regeln und Genregrenzen. Brennende Leidenschaft, das ewige Thema – Frau und Mann, fantastische Dialoge – ich bin zutiefst überzeugt, dass das der beste Roman ist, der irgendwann in georgischer Sprache geschrieben wurde.

 

Das ist also der Anfang. Ich kann mir schwer vorstellen, wie wir es schaffen, 15 Jahrhunderte georgischer Literatur zu präsentieren. Das macht das Georgische Nationale Buchzentrum viel besser als ich. Ich gehe einen anderen Weg.

 

Ich liebe Fantasy. Darum tut es mir leid, dass wir praktisch keine Fantasy-Literatur haben, auch keine wissenschaftliche Fantastik, nur eine Handvoll Titel, die in den letzten Jahren herausgegeben worden sind. Warum das so ist – ich weiß es nicht. Ich neige zu dem Gedanken, dass die Grenze zwischen Realität und einer ausgedachten, einer Zauberwelt in meinem Land sehr verschwommen ist und man den Unterschied nicht besonders fühlt. Also, wir haben zwar eine reiche Märchenwelt und wunderbare Sagen, aber so ordentlich wurde das nicht bearbeitet.

 

Georgische Kriminalromane trifft man ebenfalls selten an. Das ist viel leichter zu erklären: Seitdem die Menschheit solche Bücher schreibt, war Georgien erst Teil des Russischen Reiches, danach ein Teil der Sowjetunion, danach überlebte es eine furchtbare Zeit der Wende, und kein ordentlicher Schriftsteller würde sich erlauben, einen russischen oder im Dienst des russischen Staates stehenden Vermittler oder Polizisten siegen zu lassen. Sowas ging nicht, vielleicht nur in ein paar Büchern, die gerade deswegen kein Mensch mehr kennt.

 

Noch eine Art der Literatur, die mir in Georgisch fehlt, sind die Horror-Romane. Mir scheint, das ist sehr natürlich: Wenn ein Alltag Horror ist, denkt man sich keinen mehr aus. Braucht man nicht. Ängste und Grusel waren sowieso ein Teil des Alltags, und man trifft sie praktisch in jedem Buch der Autoren, die zur Neuen georgischen Literatur gehören.

 

Alle aufgezählten Arten des Schreibens findet man vereint in den Werken eines Autors meiner Generation, Aka Morchiladze. Mit ihm beginnt die „Neue georgische Literatur“, mit seinem ersten Roman „Die Reise nach Karabach“. In seinen Büchern treffen Sie die guten Geister des Tiflisser Bezirkes Wake, Sie landen auf Inseln im Schwarzen Meer, das gar keine Inseln hat, Sie suchen nach dem Mörder des besten Malers der Stadt Tiflis und fliegen deswegen über Madatow – und zurück. Sie lesen vom Bürgerkrieg und absurden Konflikten zwischen Nachbarländern, dem großen Friedhof der Träume, von Jungen, die nie erwachsen werden, und Frauen, die kein Glück finden werden, von Tod und Liebe in einem zerstörten Land. Wenn Sie Georgien kennenlernen möchten und nur bei dem Gedanken, 15 Jahrhunderte Literatur zu lesen, in Panik verfallen, lesen Sie zuerst Aka Morchiladze. Dann werden Sie weiterlesen, da bin ich mir sicher.

 

Damals, 1997, haben Lasha Bakradze und ich nur gespielt, dass da und dort jetzt Aka liest. Jetzt wird er lesen. Ich gehe zu jeder Lesung, kommen auch Sie vorbei! Dann treffen wir uns und können uns über alles unterhalten: über das Gute und Böse, über Krieg und Frieden und über meine liebe georgische Literatur. Wir erwarten Sie.

 

Der Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

Anna Kordsaia-Samadaschwili
Anna Kordsaia-Samadaschwili arbeitet als Übersetzerin und Kulturjournalistin. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben und Literatur an der Staatlichen Ilia-Universität Tiflis. Für ihre Erzählungen und Romane wurde sie mit verschiedenen georgischen Literaturpreisen ausgezeichnet.
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