Die Zahl der in Deutschland gesendeten Hörspiele ist unbekannt, doch es dürften – so hat Christoph Buggert, der langjährige Hörspielchef des Hessischen Rundfunks, 2004 geschätzt, weit über 100.000 Titel sein. Und nur die wenigsten sind noch erhalten oder noch bekannt.
Denn das Hörspiel, die genuine Kunst des gebührenfinanzierten Radios, war seit seinen Anfängen 1924 eine extrem flüchtige Kunst. Niemand konnte die ersten Hörspiele aufzeichnen. Sie wurden live in improvisierten „Studios“ inszeniert und einmalig über Mittelwelle gesendet – dann waren sie unwiederbringlich verloren. Das Hörspiel war und ist eine technische Kunst. Wer ein Hörspiel hören wollte, musste einen Radioapparat besitzen und ihn zu einer bestimmten Zeit einschalten. Ohne Radioapparat gab es kein Hörspiel.
Das Hörspiel entstand als regionale Radiokunst. In Hamburg oder München, Köln oder Leipzig, Königsberg oder Stuttgart wurden sehr verschiedene Hörspiele produziert, gesendet – und dann gehört. Zunächst prägten Intendanten wie Ernst Hardt, Hans Flesch oder Friedrich Bischoff die junge Gattung. Erst langsam entstanden professionalisiertere Hörspielabteilungen. Das frühe Hörspiel setzte auf einen rufenden, dem Rauschen der Mittelwelle angepassten Sprechstil, auf die Technik der Blende und auf – noch wenige – zu Radioexperimenten, zu flüchtiger Audiokunst bereite Autoren: Bertolt Brecht etwa, Friedrich Wolf, Alfred Döblin. Keiner arbeitete nur für den Hörfunk, Döblin verwertete seinen Alexanderplatzstoff sogar bereits um 1930 mehrmedial zu Buch, Film und Hörspiel. Das frühe Hörspiel war – wie das Theater – vor allem Abendkultur. Und es war von vielen Mitwirkenden abhängig: von Sprechern, Regisseuren, Geräuschemachern, Technikern, Musikern – die Autoren lieferten in der Regel nur ein Manuskript. Alles Weitere lag in anderen Händen. 1930 wurden etwa 900 Hörspiele gesendet.
Anfang der 1950er Jahre entstanden die ersten UKW-Programme. Sie ermöglichten ein neues, weitgehend rauschfreies Hören und veränderten rasch die Hörspielästhetik. Nun wurde nicht mehr deklariert, nun wurde leise gesprochen, man konzentrierte sich auf das Wort, auf den Text. Eine Blütezeit des Hörspiels, des UKW-Hörspiels, entstand, an dessen Anfang Günter Eich und vor allem der Regisseur Fritz Schröder-Jahn standen. Die bundesdeutschen Autoren mussten erst langsam – etwa durch Studiobesuche wie mit der Gruppe 47 – ans Hörspiel herangeführt werden. Dann waren fast alle dabei: Alfred Andersch, Heinrich Böll, Günter Eich, Siegfried Lenz, Dieter Wellershof. Es war die große Zeit des literarischen Hörspiels, des literarischen Abendhörspiels. Hörspiele wurden nun gehäuft auch als Buch gedruckt. Das akustisch Flüchtige wurde – schriftstellergerecht – auf Papier gebannt.
Und dann kam die Stereophonie – und neben dem literarischen Hörspiel entstand – eingeleitet durch das Kurzhörspiel „Funf Mann Menschen“ von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker – das Neue Hörspiel. Eine lange Zeit der Hörspielkämpfe begann. „Ein Hörspiel muss nicht unbedingt ein Hörspiel sein«, hieß es 1969 in Wolf Wondratscheks „Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels“. Die meisten Sender begannen, ihre Programme zu diversifizieren, ein Massenprogramm, ein Popprogramm, ein Kulturprogramm. Das Neue Hörspiel war das Hörspiel der zweiten bzw. dritten Programme.
1986 war die Monopolzeit des öffentlich-rechtlichen Radios zu Ende. Privatsender wurden zugelassen – und begannen indirekt auch das Hörspiel zu verändern. Es wurde musikalischer, auch popmusikalischer. Nun standen die Namen von Musikern für das moderne Hörspiel. Heiner Goebbels etwa oder Andreas Ammer und FM Einheit. Der heilige Text der 1950er und 1960er Jahre wurde gesungen und dekonstruiert. Die populären UKW-Programme konkurrierten jetzt mit den Privatprogrammen – und das Hörspiel wurde nach und nach in die Kulturwellen verschoben. Ein Prozess, der regional sehr unterschiedlich ablief.
Seit 1986 konnten herausragende Hörspiele auch als Kassette und dann als CD gekauft werden. Kletts Hörbühne holte Andersch und Eich aus den Archiven, erstmals wurde das Hörspiel auch akustisch dauerhaft. Neben dem öffentlich-rechtlichen Hörspiel entwickelte sich ein eigenständiger, marktorientierter Audiomarkt. Klaus Manns „Mephisto“ wurde 1999 zuerst als Hörbuch publiziert, dann erst im Kulturradio gesendet.
Um die Jahrtausendwende revolutionierte die Digitalisierung die Radiolandschaft. Die Hörspielproduktion wurde radikal vereinfacht. Es musste nun nicht mehr mühselig geschnitten und geklebt werden, nun ruhte alles auf Festplatten – und fand leicht Eingang in die zeitgenössischen Hörspiele. Sie wurden länger und opulenter. Am Anfang der Entwicklung stand 2000 eine zehnteilige Hörspielversion von Thomas Manns Klassiker „Der Zauberberg“. Sie wurde linear im Radio ausgestrahlt, erschien als Hörbuch für 149 DM – und begründete einen Trend. Das marktgerechte öffentlich-rechtliche Hörspiel, die marktorientierte Adaption klassischer Texte und der mittlere Sprechton waren geboren.
Hörspiele gab es seit der Jahrtausendwende fast nur noch in den anspruchsvollen Radioprogrammen, in Infowellen und Kulturprogrammen wie HR2, WDR 3, WDR 5, BR2, SWR 2 oder Deutschlandfunk. Sendetermine waren weiterhin die Abende, Mitternacht und das Wochenende. Doch nun waren die akustische Kunst und die aus den populären Wellen in die Kulturprogramme verirrten Krimis auch weltweit über Satelliten oder Internet zu empfangen. Die Hörspiele aus Hamburg oder München konnten bereits zur Ausstrahlung auch in München und Hamburg empfangen werden – und sogar in New York. Nur in der Produktion blieb das Hörspiel eine regionale, von regionalen Redaktionen organisierte Kunst. Die Abteilung „Hörspiel und Medienkunst“ im BR etwa hatte ihr ganz eigenes, unverwechselbares Profil.
Und dann entstand neben der gebührenfinanzierten linearen Radioausstrahlung und dem marktorientierten Audiobook noch ein dritter Ausspielweg: Der – kostenlose – Podcast im Internet, der als „Hörspielpool“ (BR) oder „Hörspielspeicher“ (WDR) gelabelt wurde. Die datenreduzierte Form der Audiokunst.
Große Studios waren einst das Alleinstellungsmerkmal der öffentlich-rechtlichen Sender. Hier entstand das analoge Hörspiel, nur hier. Doch nach und nach begann man auch außerhalb aufzurüsten: Bereits seit den 1990er Jahren wurden Hörspiele nicht nur gelegentlich in Privatstudios realisiert. Inzwischen erhalten die verbliebenen Hörspielredakteure zunehmend fertige Produktionen. Aus einst reinen Manuskriptautoren wurden im Verlauf von Jahrzehnten Hörspielmacher. Viele davon machen ihre Spiele selbst. Paul Plamper etwa.
Das aktuelle Hörspiel entfernt sich programmatisch zunehmend vom linearen (Kultur-)Radio, vom Programm und vorgegebenen Sendeterminen. Hörspiele werden heute bevorzugt für Plattformen konzipiert. Sie ergänzen Fernsehserien wie „Babylon Berlin“ oder firmieren unter adaptierten Markennamen wie „Radio Tatort“. In einigen Sendern werden Hörspiele inzwischen auch zuerst als Podcast veröffentlicht. Podcast first, heißt hier die neueste Hörspielstrategie, die etwa mit Juli Zehs „Unterleuten“ 2018 ausprobiert wurde. „Binge Listening“ ist die angestrebte neue Rezeptionsform: Das dauerhafte Hören von Serien, wie es im formatierten Kulturradio in der Regel nicht möglich ist.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.