Die Welt ins Ohr

Auslandsberichterstattung im Radio

Im Jahr 1991 wurde ich vom SDR zum ersten Mal ins ARD-Hörfunkstudio Kairo geschickt. Auslandsberichterstattung. Es war nicht mein erster Einsatz als Radiojournalist im Ausland. Mehrfach war ich zuvor schon als Reporter in der Türkei, in Syrien und in Nordafrika gewesen. Aber in Kairo ging es erstmals für mich um „Regelberichterstattung“: wenn möglich, täglich aktuelle Berichte aus meinem Berichtsgebiet. Dazu gehörten Ägypten, der Sudan, Libyen und die Arabische Halbinsel. Technisch war das Hörfunkstudio damals spärlich ausgestattet. Es gab keinen Computer: Texte wurden mit einer Schreibmaschine verfasst. Es gab kein Internet: Informationen wurden über lokale und internationale Zeitungen, Fernsehkanäle und Radioprogramme beschafft. Es gab keinen File-Transfer für fertiggestellte Berichte: Texte wurden in ein antiquiertes Telefon mit monströser Wahlscheibe gesprochen und in Stuttgart in einem Tonträger auf Band aufgenommen. Versprecher und technische Unsauberkeiten wurden dort rausgeschnitten. Der Beitrag wurde dann von Stuttgart aus den Hörfunkwellen und Radioprogrammen in Deutschland angeboten. Es gab damals noch keine digitalen Schnittsysteme: Wenn ein BmE genannter Beitrag mit Einspielung erstellt werden sollte, wurde ein Tonband per Flugzeug nach Stuttgart geschickt, um den Bericht dort zu produzieren. Auf dem Tonband waren der eigene gesprochene Text sowie sogenannte O-Töne – also Originaltöne von Interviewpartnern. Diese Töne waren auf einer museumsreifen M15-Bandmaschine von Telefunken geschnitten worden. Diese Bandmaschine war lange Jahre der ganze Stolz des ARD-Hörfunkstudios in Kairo. Es gab damals auch schon Live-Gespräche aus Ägypten. Dazu diente das altertümliche Telefon mit Wählscheibe. Es bedurfte häufig mehrerer Versuche, um eine saubere und verständliche Leitung zu bekommen.

 

Das Geschilderte erinnert vielleicht ein wenig an das Wirken von Peter von Zahn. Er gilt als einer der Pioniere der deutschen Radiokorrespondenten im Ausland. 1951 ist er für den NWDR in die USA gegangen. Seine 15-minütige Radiosendung „Aus der neuen Welt“ nahm ein Millionenpublikum mit über den Großen Teich. Vor ihm waren Karl Gehnich nach Stockholm und Ernst Adam nach London entsandt worden. 1956 schickte der SDR Klaus Mehnert für die ARD nach Moskau. Auf ihn folgte Gerd Ruge. Das Netz der ARD-Hörfunkkorrespondenten wuchs seitdem auf heute 56 Frauen und Männer rund um den Globus. Die Radioleute im Ausland brachten ihren Hörerinnen und Hörern die Welt ins Ohr.

 

Sie tun das bis heute. Aber Arbeitsweise und Arbeitsmittel haben sich fundamental verändert. Peter von Zahn verschickte einmal pro Woche ein Tonband an einen Sender. Heute müssen 64 Radiowellen und -programme bedient werden. Im Krisenfall verursacht das ultimativen Stress.

 

Terroranschläge in Ägypten, der Putschversuch in der Türkei oder der Völkermord im sudanesischen Darfur – das waren Ereignisse, bei denen ich physisch und psychisch an meine Grenzen kam. Die angeforderten Formate sind sehr unterschiedlich – nicht nur in Länge und Inhalt, sondern auch in Machart und Anmutung. In den Popwellen ist die politische Analyse über die Entwicklung der Demokratiebewegung in Tunesien weniger gefragt als das neue Album von Billie Eilish. Sollte Billie Eilish aber ihr neues Album ausgerechnet in Tunis der Welt präsentieren, könnte das die Popwellen ebenso wie auch den politischen Zeitfunk interessieren. Will heißen: Die zuständige Korrespondentin sollte technisch und inhaltlich in der Lage sein, das jeweilige Publikum zu bedienen. In solch einem Fall reicht der Hörfunkbeitrag vielen aber nicht mehr, selbst wenn er klasse gemacht ist. Denn es gibt TikTok, YouTube, Instagram, Facebook und Twitter, die vor allem bei jungen Menschen mehr Zuspruch finden als das Radio. Dadurch verändern sich auch Zuschnitt, Ausrichtung und Ausbildung von Auslandskorrespondenten. Entsprechend verändert sich die Auslandsberichterstattung.

 

Peter von Zahns bahnbrechende Radioberichte „Aus der neuen Welt“ stammen aus einer anderen Zeit und einem anderen gesellschaftlichen Kontext. Sie transportieren noch sehr viel Unbekanntes, sie machen Lust auf Neues, sie explorieren, entdecken fremdes Terrain. Die Deutschen waren damals noch nicht Reiseweltmeister. Sie lernten gerade, über ihren Tellerrand hinauszuschauen. Auslandsberichterstattung – im Radio wie im Fernsehen – setzt heute zumeist andere Akzente. Die Welt ist gefühlt kleiner geworden, viele Menschen reisen bis in die letzten Winkel unseres Planeten.

 

Die ARD-Hörfunkstudios rund um den Globus sind heute besser ausgestattet als zu Peter von Zahns Zeiten oder noch zu Beginn der 1990er Jahre.

 

Digitalisierte Studios sowie moderne Sende- und Übertragungstechnik sind Standard. Gehen heutige Radiokorrespondenten auf Reisen in ihrem Berichtsgebiet, haben sie in einem kleinen Rucksack oder einer Computertasche ein perfekt funktionierendes „Hörfunkstudio“ dabei: Laptop mit Schnittsystem, Kopfhörer, Mikrofon, Aufnahmegerät. Wenn in abgelegenen Gegenden kein Internet verfügbar ist, hilft ein Satellit von der Größe eines Laptops, produzierte Stücke nach Deutschland zu übertragen. Steht ein stabiles Internet zur Verfügung, reicht schon ein Smartphone mit spezieller App, um Live-Gespräche in Studioqualität führen zu können.

 

Dadurch können Korrespondentinnen und Korrespondenten sehr nah ans Geschehen und mit geringem technischem Aufwand die Ereignisse reportieren.

 

Die Welt ist durch Globalisierung und Vernetzung auch gefühlt komplizierter geworden. Zusammenhänge müssen vermittelt und erklärt werden. Klimawandel, ausbleibender Regen, schlechte Ernte, dazu Vetternwirtschaft und Korruption in einem Land der Sahelzone können Auswirkungen für uns in Deutschland haben. Junge Menschen – auf der Suche nach einer besseren Zukunft – machen sich auf den Weg, durchqueren unter Lebensgefahr die Sahara, setzen von Libyen oder Tunesien nach Europa über und versuchen in Italien, Spanien oder Deutschland Fuß zu fassen. Zusammenhänge zu erklären, braucht Zeit – Sendezeit. Davon sollte es bei 64 Radiowellen und -programmen reichlich geben. Doch Auslandsthemen – zumal wenn’s kompliziert wird – finden immer weniger statt. Das betrifft nicht nur das öffentlich-rechtliche Radio, sondern auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Viele Auslandssendungen sind in den vergangenen drei Jahrzehnten gestrichen worden. Der Blick geht nach innen, gewünscht werden Sport und Unterhaltung. Für das exportorientierte Deutschland ist das keine gute Entwicklung. Nie waren die technischen Voraussetzungen für Auslandskorrespondenten besser. Gleichzeitig, auch das muss erwähnt werden, verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen in vielen Ländern der Welt drastisch, weil keine Visa und/oder Pressekarten erteilt und – wie im Falle Ägyptens, Irans und in vielen anderen Ländern – die Berichterstattung durch zensorische Maßnahmen massiv eingeschränkt werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.

Reinhard Baumgarten
Reinhard Baumgarten ist Redakteur bei SWR Ausland und Europa. Er war bis 2018 Hörfunkkorrespondent der ARD für die Türkei, Griechenland und den Iran.
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