KW 44: Radioliebe, Impfpflicht, 100 Jahre Radio, …

... KULTURLICHTER – Deutscher Preis für kulturelle Bildung, Neue Politik & Kultur, Text der Woche, Corona-Chroniken: Jetzt kostenfrei als E-Book

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

der Held in der 1994 veröffentlichten Erzählung von Friedrich C. Delius „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ erlebte am 4. Juli 1954 eine Art Befreiung. Er, der evangelische Pfarrerssohn, hörte die Radio-Übertragung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft. Der hymnische Ton der Übertragung, die Vergleiche der Spieler mit Helden, fast mit Göttern und der Ruf „Tor, Tor, Tor“ machten aus dem verschüchterten, stotternden elfjährigen Jungen einen selbstbewussten Jungen, der seine Schüchternheit abstreifte und zu Worten fand. Delius fängt in seiner Erzählung nicht nur die Atmosphäre der Nachkriegszeit ein, sondern vermag es auch, den spezifischen „Radio-Sound“ sprachlich zu fassen.

 

Die Sportreportage gehört zu den klassischen Genres des Radios. Sportreporter stehen vor der Aufgabe, ein Geschehen, das die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht sehen, sondern nur hören, und bei dem es mitunter um Minuten, manchmal sogar nur um Sekunden geht, sprachlich zu fassen. Ihre spezifische Leistung besteht darin, die Zuhörerinnen und Zuhörer für das Geschehen, was auf dem Platz stattfindet, zu fesseln. Die Bundesliga-Übertragung der öffentlich-rechtlichen Sender am Samstagnachmittag ist legendär und hat für manche einen Kultstatus.

 

Nun gehört Sport – und gar noch Fußball – nicht zu den Themen, für die ich mich besonders interessiere. Das Radio hat aber auch für mich eine besondere Bedeutung. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich als Kind, wenn ich krank war und im Bett lag, Radio hören durfte. Das Radio hören und spielen mit Legos tröstete mich bei meinen Ohrenschmerzen und anderen Malaisen. Später als Kunsthändler habe ich auf meinen Fahrten zu Kundinnen und Kunden im Auto oft stundenlang Radio gehört und immer wieder Neues entdeckt. Und noch heute geht es mir in den seltenen Fällen, in denen ich mit dem Auto fahre, so, dass ich sofort das Radio einschalte und mich überraschen lasse.

 

Das überraschen lassen, das Entdecken von Neuem – oder manchmal auch Altbekanntem – fasziniert mich am linearen Radio. Ich lasse mich gerne mitnehmen von den Redakteuren, den Moderatorinnen und Reporterinnen. Wenn mir etwas gefällt, bleibe ich dabei, wenn mir etwas missfällt, drehe ich weiter zum nächsten Sender. Das lineare Programm verführt mich dazu, das kennenzulernen, worauf ich selbst nie gekommen wäre, wenn ich mir im non-linearen Programm selbst etwas zusammenstellen müsste – also mein eigener Programmchef wäre.

 

Für die Kulturpolitik ist das Radio von unschätzbarem Wert. Berichterstattung über Kulturpolitik, längere Interviews, die es ermöglichen, einen Sachverhalt zu erläutern und ein Thema vertiefend darzustellen, finden fast nur im Radio statt. Kulturpolitik spielt im Fernsehen fast gar keine Rolle und auch die Journalistinnen und Journalisten der Printmedien schreiben lieber über Ausstellungen, Bücher, Aufführungen, gesellschaftliche Diskurse und so weiter als über harte politische Themen wie die Entwicklung der Künstlersozialversicherung, die Einbeziehung von Selbständigen in die Arbeitslosenversicherung, die Verästelungen des Urheberrechts, die Wirksamkeit von Wirtschaftshilfen und anderen relevanten, die Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs betreffenden Themen. Im Radio finden diese Fragestellungen ihren Platz, und zwar nicht nur in den verschiedenen Sendungen, sondern auch in kulturpolitischen Diskussionsrunden, die im Radio übertragen werden. Zu nennen sind etwa Wortwechsel von Deutschlandfunk Kultur, das Kulturpolitische Forum bei WDR3, die Diskussionssendungen beim Inforadio des rbb und viele andere mehr. Diese Diskussionen ermöglichen, Themen auf den Grund zu gehen und sie von verschiedenen Seiten zu betrachten. Genau das ist eine Stärke des Radios.

 

Das Radio leistet aber noch mehr. Das Radio ist ein wichtiger Promoter von Musik. Egal, ob Schlager, ob Pop, ob Rock, ob Jazz. Egal, ob vor allem unterhaltende oder ernste Musik. Egal, ob innovativ oder altbekannt. Musik im Radio ist unverzichtbar und für so gut wie jeden Geschmack ist etwas dabei. Was im Radio gespielt wird, hat eine entsprechende Reichweite und kann dazu beitragen, dass der Musiker, die Musikerin oder die Band an Bekanntheit gewinnt. Nicht von ungefähr veranstalten viele Hörfunksender, egal ob öffentlich-rechtlich oder privat, auch Konzerte. Dies trägt zur Publikumsbindung bei, schafft Aufmerksamkeit und nicht zuletzt Einkommen für die Künstlerinnen und Künstler. Die öffentlich-rechtlichen Sender unterhalten überdies Orchester, Chöre und teilweise auch Bigbands. Sie pflegen nicht nur die Musikkultur, sondern spielen auch neue Musik ein.

 

Nach wie vor liegt das Radio an zweiter Stelle, was die Mediennutzung betrifft, wie die jüngste ARD/ZDF-Langzeitstudie „Massenkommunikation“ belegt. Das Fernsehen erreicht bei den über 14-Jährigen eine Tagesreichweite von 80 Prozent und das Radio von 74 Prozent. Erst danach folgt die Internetnutzung mit 46 Prozent und das Lesen der Tageszeitung mit 33 Prozent. Das Radio hat also einen stabilen Platz in der Mediennutzung. Das enthebt die Radiomacherinnen und -macher aber nicht der Verantwortung, das Angebot immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und weiterzuentwickeln. Gerade der letztgenannte Aspekt ist am heikelsten. Denn wer nimmt schon gerne von lieb gewordenen Gewohnheiten, von vertrauten Sendeplätzen und gewohnten Präsentationsformen Abschied. Gerade beim Radio entsteht sehr schnell ein Sturm der Entrüstung, wenn Veränderungen anstehen – auch dies ein Zeichen dafür, welche enge Bindung das Radio erzielen kann.

 

Ich bin mir sicher, dass bei allen Veränderungsanforderungen und allem Veränderungswillen das hundertjährige Radio eine Zukunft hat – auch im linearen Programm. Allein die legendäre Bundesligaschalte zeigt, dass der unverwechselbare Ruf „Tor, Tor, Tor“ über Jahrzehnte hinweg begeistern kann.

 

Weil das Radio etwas besonderes ist, haben wir es zu seinem 100 Geburstag zum Schwerpunkt in Politik & Kultur gemacht. Herausgekommen ist eine kleine Liebeserklärung an das Radio.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
twitter.com/olaf_zimmermann

 

PS. Das Robert Koch-Institut meldet heute Morgen 37.120 Corona-Neuinfektionen, die Inzidenz liegt bei fast 170, die Intensivstationen kommen schon jetzt an ihre Belastungsgrenzen. Eine Impfpflicht hätte viel Leid und Tod erspart und ist letztlich auch das beste Kulturunterstützungsprogramm, da sich dadurch Schließungen und Beschränkungen vermeiden ließen. Leider hat die Politik nicht den Mut das Notwendige zu tun.

 


 

100 Jahre Radio

 

Am 22. Dezember 1920 spielten Reichspostmitarbeitende der Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen bei Berlin ein historisches Weihnachtskonzert – die erste öffentliche Rundfunkaussendung in Deutschland. Seit über 100 Jahren ist das Radio nun bereits auf Sendung und aus der Kultur nicht mehr wegzudenken.

 

Hier aktuelle Texte:

 

 

Die Ausstellung „ON AIR. 100 Jahre Radio“, die für das Museum für Kommunikation Berlin kuratiert wurde, erzählt die Geschichte des Rundfunks in Deutschland. Große und kleine Geräte berichten vom Senden und Empfangen. Bekannte Stimmen und überraschende Töne prägen das Medium seit zehn Dekaden. Zeit und Raum verändern das Radio und wie wir es nutzen. Vom 25. November 2021 bis 28. August 2022 kann man die beeindruckende Ausstellung im Museum für Kommunikation Frankfurt besichtigen.

 


 

Bewerbungsfrist für „KULTURLICHTER – Deutscher Preis für kulturelle Bildung“ nur noch bis zum 17.11.2021

 

Die Auszeichnung, die vom Amt der Staatsministerin für Kultur und Medien (BKM) und der Kulturstiftung der Länder ausgelobt wird, prämiert Projekte und Projektideen, die digitale Instrumente in der kulturellen Bildung und der Kulturvermittlung innovativ einsetzen.

Eine Jury, die von der Kulturstaatsministerin und der Kulturstiftung der Länder berufen wird, trifft die fachliche Auswahl für den Preis des Bundes und den Preis der Länder. Über den Preis in der Kategorie „Preis des Publikums“ entscheidet ein öffentliches Online-Voting.

Nähere Informationen zum Wettbewerb finden Sie hier.

 

Die Preise:

  1. KULTURLICHTER – Preis des Bundes
    Der Preis des Bundes zeichnet ein Projekt aus, das bundesweit adaptiert werden kann. Diese Auszeichnung ist mit 20.000 Euro dotiert.
  2. KULTURLICHTER – Preis der Länder
    Der Preis der Länder würdigt ein Projekt, das regional oder interregional übertragen werden kann. Diese Auszeichnung ist mit 20.000 Euro dotiert.
  3. KULTURLICHTER – Preis des Publikums
    Der Preis des Publikums prämiert ein Projekt mit besonderem Potenzial. Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält eine maßgeschneiderte Beratung für die Weiterentwicklung des Projekts, sei es bei der technischen Entwicklung, der Netzwerkarbeit oder bei der Weiterentwicklung des Vermittlungskonzepts. Der Preis des Publikums ist nicht dotiert.

 


 

Politik & Kultur November 2021 ist erschienen!

 

  • Radio Ga Ga
    100 Jahre auf Sendung
  • Diversität
    Wie divers sind deutsche Kultureinrichtungen? Ergebnisse aus dem Bericht „Diversität in Kulturinstitutionen 2018-2020“
  • Kulturpolitikpreis
    Außerordentliches Engagement und Dialogbereitschaft: Josef Schuster erhielt den ersten Deutschen Kulturpolitikpreis
  • Europa
    Vielfalt sichern in Zeiten der Internetgiganten: Das Gesetz über digitale Dienste der EU-Kommission
  • Internationales
    Auf der Seidenstraße durch Afrika: China finanziert die Modernisierung subsaharischer Küstenstädte

 

Weitere Themen: E-Lending in den öffentlichen Bibliotheken, Möller meint: Tagebuch von Günther Rühle, Rekolorisierung von Werken von Gustav Klimt, Medien als Randthema in der neuen Bundesregierung?, 31 Jahre Wiedervereinigung: Ausstellung Umbruch Ost u.v.m.

 

  • Politik & Kultur ist die Zeitung des Deutschen Kulturrates. Sie wird herausgegeben von Olaf Zimmermann und Theo Geißler.
  • Sie erscheint zehnmal jährlich und ist erhältlich in Bahnhofsbuchhandlungen, an großen Kiosken, auf Flughäfen und im Abonnement: Einzelpreis: 4,00 Euro, im Abonnement: 30,00 Euro (inkl. Porto), im Abonnement für Studierende: 25 Euro (inkl. Porto).
  • Die Ausgabe 11/21 von Politik & Kultur mit dem Schwerpunkt „Radio Ga Ga – 100 Jahre auf Sendung“ steht als kostenfreies E-Paper (pdf-Datei) zum Herunterladen bereit

 


 

Text der Woche: Johann Hinrich Claussen „Lust am Wort – Sprache ist Heimat und Kampfplatz“

 

Aber es gibt ja auch andere Möglichkeiten. So habe ich bei meinen Sprachbasteleien festgestellt, dass sich viele Probleme – gendern ja oder nein? – vermeiden lassen, wenn man weniger pauschalisierend über Gruppen und konkreter, individueller spricht. Eigentlich bereitet es Freude auszuprobieren, was geht, was angemessen ist, sachlich richtig, stimmig, aber auch schön klingt, fließt, lockt – je nach Situation, Ort und Gegenüber. Überkorrektheit hilft da nicht so weiter, wütend erregte Veränderungsfeindschaft schadet sogar. Was es braucht, sind Sprach- und Menschenfreundlichkeit, Lust am Wort und Interesse an den Nächsten, Neugier und Rücksichtnahme, Kreativität und Demut – in der Kirche und anderswo.

 

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.

 

Lesen Sie den Text hier!

 


 

Letzte Meldung

 

Das Interesse an den Corona-Chroniken des Deutschen Kulturrates ist so groß, dass wir uns entschlossen haben, das Buch neben der Printausgabe auch als kostenfreies E-Book (pdf-Datei) anzubieten.

 

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