- Fernweh
- Politik & Kultur 10/23 Reiseschwerpunkt
- Neuerscheinung: Baustelle Geschlechtergerechtigkeit – Datenreport zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Arbeitsmarkt Kultur
- Leseempfehlung
- Nachhaltigkeit im Kultursektor
- Text der Woche: Breite Bündnisse für die Kultur von Claudia Roth
Sehr geehrte Damen und Herren,
dicke Atlanten, Reisebeschreibungen, Bildbände all dies habe ich schon immer gerne gewälzt, lasse mich inspirieren und schwelge darin, doch mal nach A oder B zu reisen. In der Realität bin ich, ehrlich gestanden, ein ziemlicher Reisemuffel. Die Planung, das Studieren möglicher Reiseorte, das Abwägen und nicht zuletzt das genaue Erkunden der Vor- und Nachteile faszinieren mich am meisten. Von der Reise selbst halten mich sehr oft die langen Wege, womöglich noch in einem viel zu engen Flugzeug ab. Manchmal reise ich einfach beim Schauen durch das kleine Teleskop auf meinem Balkon, vom Jupiter über den Saturn direkt in den Orionnebel.
Doch auch als Reisemuffel war ich schon zweimal auf der anderen Seite der Welt in Australien und hatte das Privileg, viele Länder in Europa und den Nahen Osten bereisen zu dürfen. Die Möglichkeit zu reisen für (fast) jedermann besteht noch nicht sehr lange. Über einen langen Zeitraum hinweg war das Reisen den höheren Ständen oder Gesellschaftsschichten vorbehalten. Die Kavaliersreisen der jungen Adeligen, in denen sie andere Lebenswelten kennenlernen und sich „Hörner abstoßen“ sollten, waren eine Form des Reisens. Eine andere die Künstlerreisen. Legendär ist Goethes (1749-1832) „Italienische Reise“. Goethe besuchte den Sehnsuchtsort damaliger bildender Künstler und Schriftsteller. Diese Reise eröffnete ihm neue Welten, und sein Stil veränderte sich nachdrücklich. Er steht mit dieser Reise in einer Tradition der Bildungsreise, die in der Literatur im bürgerlichen Realismus vom Bildungsroman aufgegriffen wurde. Egal, ob Gottfried Kellers (1819-1890) „Grüner Heinrich“ oder Adalbert Stifters (1805-1868) „Nachsommer“, um nur zwei Beispiele zu nennen, stets sind es die Reisen und die dabei gesammelten Erfahrungen, die die Protagonisten zum Mann werden lassen. Sie ähneln damit in gewisser Hinsicht den mittelalterlichen „Artus-Romanen“, in denen es um die Reifung des Protagonisten geht. Egal, ob „Erec“ oder „Iwein“, ob „Parzival“ oder „Tristan“, stets stehen die Helden vor der Aufgabe, ihren angestammten Sitz zu verlassen, eine „Aventuire“ zu bestehen, geläutert und gereift zurückkehren. Ähnlich dem listigen Odysseus, der erst nach zehnjähriger Fahrt verbunden mit zahlreichen Abenteuern von der siegreichen Schlacht um Troja zurückkehrte. Ganz anders Theodor Fontanes (1819-1898) „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Sie erschließen den Nahraum von Berlin. In Fontanes Romanfiguren wird der Unterschied männlicher und weiblicher Lebenswelten am Reisen und damit der Welterschließung deutlich. Man denke nur an Effis Furcht vor dem Chinesen in „Effi Briest“. Madame de Stael (1766-1817) ist ein Gegenbeispiel. Sie bereiste Deutschland. Ihr Buch „Über Deutschland“, das im napoleonischen Frankreich verboten war, zeigt ein idealisiertes Deutschlandbild.
Eine andere Form der Reiseliteratur schuf Annemarie Schwarzenbach. Sie bereiste beispielsweise Persien und Afghanistan. Ihre Fotografien und schriftstellerischen Berichte legen Zeugnis von der Faszination ab, die diese unbekannten Welten auslöste. Konnte Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) als Industriellentochter ökonomisch abgesichert reisen, machte sich Friedrich Gerstäcker (1816-1872) als „Abenteurer“ auf den Weg. Im Jahr 1837 reiste er erstmals in die Neue Welt und schlug sich mit verschiedenen Arbeiten durch. Besonders sagte ihm das Leben als Jäger zu, bei dem er die Weiten des seinerzeit in Europa noch weitgehend unbekannten Kontinents durchstreifte. Zurückgekehrt nach Deutschland veröffentlichte er 1843 seine ersten Werke und begründete damit seinen schriftstellerischen Erfolg. Dank dieses Erfolgs konnte er weitere Reisen nach Nord- und Südamerika bis nach Australien antreten. Ganz anders Karl May, in dessen Werk Reisen eine immense Rolle spielen, der aber selbst nie einen Fuß in die beschriebenen Welten setzte. Weder war er in Nordamerika, wo seine Romane rund um Winnetou und Old Shatterhand spielen, noch im wilden Kurdistan. Seine Beschreibungen entspringen der Literatur und vor allem seiner Fantasie.
Die Literatur ist reich an Beispielen von Fernweh und der Entdeckung unbekannter Welten. Dabei geht es sehr oft zum einen um die Beschreibung der wahrnehmbaren neuen Umgebung und zum anderen um die innere Entdeckungsreise, um das Finden von sich selbst. Mit Büchern wie „100 Gramm Wodka“, „Tel Aviv – Berlin“ oder „König der Hobos“ verbindet Fredy Gareis (geb. 1975) den Reiz des Abenteuers mit persönlichen Erlebnissen auf moderne Weise.
Doch nicht nur in der Literatur spielt Reisen eine wichtige Rolle. Das Reisen spiegelt sich ebenso in der Fotografie, in Zeichnungen oder Bildern. Künstler, die im 18. und 19. Jahrhundert auf Reisen gingen, hielten das Erlebte nicht nur in Worten, sondern ebenso in Zeichnungen und Bildern fest, oder sie brachten Exponate von ihren Reisen mit, die heute auf ihre Provenienz untersucht werden. Ein besonderer Reisender darf in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben: Alexander von Humboldt (1769-1859). Seine Reisen nach Süd- und Nordamerika sowie Zentralasien waren keine Abenteuer-, sondern Forschungsreisen. Humboldt ging dabei bis an den Rand seiner körperlichen Belastbarkeit.
Mit dem Fernsehen entstanden neue Formen von Reisen und Gattungen. Die Reisereportage, sei es mit dem Zug oder anderen Verkehrsmitteln, ist eine eigenständige Form. Legendär sind für mich persönlich nach wie vor die Reportagen von Gerd Ruge (1928-2021), Fritz Pleitgen (1938-2022) oder auch Klaus Bednarz (1942-2015), in denen nicht nur Landschaften, sondern ebenso Menschen und Lebensweisen vorgestellt wurden. Das Besondere daran ist, dass sie nicht die Reisenden, sondern die Reise in den Mittelpunkt stellten.
Für den Kulturbereich nicht außer Acht zu lassen sind ferner die Städtereisen, die von einem Miteinander von touristischen Zielen und Kulturgenuss geprägt sind.
Fernweh scheint ein Lebensgefühl von Menschen zu sein. Bei den einen ist es so stark, dass sie tatsächlich in die Ferne ziehen müssen, bei den anderen reichen ein mitreißendes Buch, Fotos oder Filme – oder der Blick durchs Teleskop. Egal, zu welcher Kategorie Sie gehören, lassen Sie sich in unserer neuen Ausgabe von Politik & Kultur von dem Schwerpunkt „Die Ferne erfahren: Von der Kultur des Reisens“ mitnehmen auf Reisen.
Ihr
Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
twitter.com/olaf_zimmermann
2. Politik & Kultur 10/23 Reiseschwerpunkt
De neue Ausgabe richtet den Schwerpunkt auf das Thema „Die Ferne erfahren: Von der Kultur des Reisens“. Die Beiträge zum Thema finden Sie auf den Seiten 17 bis 29.
Fragen, mit denen sich der Schwerpunkt befasst, sind unter anderen: Was kennzeichnet die Kulturgeschichte des Reisens? Wie passen Reisen und Nachhaltigkeit zusammen? Welche Trends und Tendenzen gibt es aktuell in der Reisebranche? Welche Bedeutung hat Tourismus für die Kulturwirtschaft eines Landes?
Alle Beiträge des Schwerpunkts:
- Eine (sehr) kurze Geschichte des Reisens, „Unterwegs!“ von Jürgen König
- Reisewirtschaft im Wandel: Trends, Tendenzen und Herausforderungen: „Reisen muss demokratisch bleiben“ von Norbert Fiebig
- Wolfgang Strasdas im Gespräch über Tourismus und Nachhaltigkeit: „‚Die Branche ist sehr opportunistisch!'“ von Wolfgang Strasdas & Jürgen König
- Von Touristifizierung und Massentourismus: „Wie demokratisch ist Reisen?“ von Anja Saretzki
- Lebendige Tradition mit Erlebnischarakter: „Bräuche, Feste und immaterielles Kulturerbe“ von Kurt Luger
- Tina Uebel im Gespräch über Reisen als Beruf: „Von der Lust, unterwegs zu sein“ von Tina Uebel & Jürgen König
- Reiseverkehrsmittel im Wandel der Zeit: „Unterwegs mit Auto, Zug, Schiff oder Flugzeug?“ von Bettina Gundler
- Vier Fragen an Andreas Knipping zu Zugreisen: „‚Die Eisenbahn hat das Reisen zum Massenphänomen gemacht'“ von Andreas Knipping
- Über Markenentwicklung in der Touristik am Beispiel Studienreisen: „Probesitzen im Kopf“ von Boris Kochan
- Pilgerreisen als spirituelle Form des Reisens: „Gottsuche oder Selbstfindung?“ von Isabella Schwaderer
- Trends und Zukunftspotenziale im Gesundheitstourismus: „Gesund durch Reisen!“ von Matilde S. Groß
- Kreuzfahrten als Arbeitgeber für Kulturschaffende: „Harte Arbeit, schlechte Bezahlung“ von Jörg Löwer
- Der Seelsorger Volker Faigle im Gespräch: „Sorgen und Nöte im Reisegepäck“ von Volker Faigle & Ludwig Greven
- Auch die Ostdeutschen erfüllten sich ihre Urlaubssehnsüchte: „Reisefreiheit oder organisierter Spaß“ von Regine Möbius
- Eine kleine Kulturgeschichte des Reisegepäcks: „Von der Reisetruhe zum Rollkoffer“ von Ludwig Greven
- Zum Lebensgefühl von Menschen: „Fernweh“ von Olaf Zimmermann
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3. Neuerscheinung: Baustelle Geschlechtergerechtigkeit – Datenreport zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Arbeitsmarkt Kultur
Im neuen Report werden Daten zur Zahl der Erwerbstätigen im Arbeitsmarkt Kultur, dem Frauenanteil, dem Einkommen und dem Gender-Pay-Gap zusammengestellt und bewertet. Der Datenreport geht sowohl auf Soloselbstständige als auch auf abhängig Beschäftigte im Kulturbereich ein.
Der Titel „Baustelle Geschlechtergerechtigkeit“ macht deutlich, dass es noch viel zu tun gibt. Nach wie vor besteht eine geschlechtsspezifische Segregation der Berufe im Arbeitsmarkt Kultur und nach wie vor gibt es einen deutlichen Gender-Pay-Gap. Der Datenreport schließt mit Vorschlägen der Autorin und des Autors ab, wie die Situation zu verbessern ist.
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- Die Studie ist natürlich auch über jede Buchhandlung lieferbar.
- Pressevertreterinnen und -vertreter können ein elektronisches Rezensionsexemplar unter ed.ta1733913607rrutl1733913607uk@ts1733913607op1733913607 anfordern.
Gabriele Schulz, Olaf Zimmermann
Baustelle Geschlechtergerechtigkeit
Datenreport zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Arbeitsmarkt Kultur
ISBN 978-3-947308-36-1, 236 Seiten, 22,80 Euro
4. Leseempfehlung
Vernetzt. – Frauennetzwerke
Die erste Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts, der Kampf um das Frauenwahlrecht, die Auseinandersetzungen um den Zugang zu Bildung und bestenfalls zum Studium wären ohne die Netzwerke couragierter Frauen nicht denkbar.
Heute sind es weitaus mehr Netzwerke von Künstlerinnen bzw. von Frauen aus dem Kultur- und Medienbetrieb. Manche regional verankert, andere wiederum bundesweit tätig. Mitunter fällt es schwer, den Überblick zu behalten.
Das Dossier „Vernetzt.“ zu Frauennetzwerken bringt etwas Orientierung in diese Vielfalt.
Vernetzt. – Frauennetzwerke
978-3-947308-58-3, 56 Seiten, 4,20 Euro
Mein kulturpolitisches Pflichtenheft
Ich habe mein ganz persönliches kulturpolitisches Pflichtenheft vorgelegt, in dem ich zeige, welche Themen unter welchen Rahmenbedingungen die Arbeit auf der Kulturbaustelle heute bestimmen, oder bestimmen sollten.
Die Themenbereiche sind: Werte, Kunst, Medien, Handel, Bildung, Religion, Erinnerung, Digitales, Natur und Nachhaltigkeit.
- Werfen Sie einen Blick ins Buch.
Olaf Zimmermann
Mein kulturpolitisches Pflichtenheft
978-3-947308-38-5, 216 Seiten, 19,80 Euro
5. Nachhaltigkeit im Kultursektor
Am vergangenen Freitag hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth in Berlin die Anlaufstelle „Green Culture“ offiziell gestartet, die nun Schritt für Schritt ihre Arbeit aufnehmen wird. Als zentraler Ansprechpartner wird sie künftig der Kultur- und Medienbranche bei der Entwicklung von klimaschonenderen Betriebs- und Produktionsabläufen zur Seite stehen. Der Deutsche Kulturrat unterstützt sie als strategischer Partner.
Lesen Sie zum Thema das neue Buch des Deutschen Kulturrates „Ohne Kultur keine Nachhaltigkeit“.
Ohne Kultur keine Nachhaltigkeit
Wie der Kultur- und Naturbereich gemeinsam die UN-Nachhaltigkeitsziele voranbringen können.
Hg. v. Olaf Zimmermann und Hubert Weiger,
Vorwort Kulturstaatsministerin Claudia Roth
78-3-947308-40-8, 256 Seiten, 22,80 Euro
Mehr zur Umsetzung der UN-Agenda 2030 im Kultursektor:
Der Deutsche Kulturrat hat sich bereits in einigen Stellungnahmen zur Umsetzung der Agenda 2030 positioniert. Im Juni dieses Jahres legte er seine neueste Stellungnahme „Mit Kultur Nachhaltigkeit befördern – Nachhaltigkeit in der Kultur stärken“ vor.
6. Text der Woche: Breite Bündnisse für die Kultur von Claudia Roth
Ich setze mich deshalb innerhalb der Bundesregierung entschieden für eine bessere Absicherung ein, z. B. wenn es um weitere Öffnung der Arbeitslosenversicherung für Soloselbstständige geht.
In anderen Bereichen können wir mit meinem Haus selbst etwas tun – und tun es. Z. B. werden wir bei der Gestaltung unserer Förderpolitik jetzt Mindesthonorare festlegen. Schließlich wollen wir gemeinsam – und ich weiß, dass wir hier im Raum dieses Anliegen teilen und dafür an einem Strang ziehen – auch dazu kommen, dass die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern eine Selbstverständlichkeit wird im Kulturbereich.
Claudia Roth ist Staatsministerin für Kultur und Medien beim Bundeskanzler.