KW 18: Arbeiterkultur, Woche der Meinungsfreiheit, Beschleunigte Sinnkrise – Kultur und Kirche im Lockdown, …

Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration, Ankunft im Alltag. Künstler im vereinigten Deutschland, Text der Woche

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

gibt es noch eine Arbeiterkultur, war die erste Frage, die mir durch den Kopf schoss, als die Arbeiterwohlfahrt mit der Idee auf mich zukam, gemeinsam einen Schwerpunkt zum Thema Arbeiterkultur für Politik & Kultur zu konzipieren. Ich dachte an Arbeiterlieder, Arbeiterfotografie der 1920er Jahre, an Autorinnen und Autoren, die über Not und Elend der Arbeiterklasse geschrieben haben, an Arbeitertheater, Arbeiterfilme wie „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ aus den dreißiger Jahren. Mir kamen aus Westdeutschland Dokumentarfilme aus den 1970er Jahren, der durchaus umstrittene „Werkkreis Literatur in der Arbeitswelt“ und natürlich die Bilder von Jörg Immendorff wie „Wo stehst du mit deiner Kunst Kollege?“ aus den frühen siebziger Jahren in den Sinn. Aus der DDR dachte ich an den Bitterfelder Weg, an Werktätige, die künstlerisch arbeiten und Künstler, die im verherrlichenden Sozialistischen Realismus das Arbeiten glorifizierten. Aber gibt es heute noch Arbeiterkultur?

 

Schon der Begriff „Arbeiter“ ist kaum mehr üblich. Heute ist die Rede von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen. In der Sozialberichterstattung werden die Facharbeiter und -arbeiterinnen von den ungelernten Arbeitern und Arbeiterinnen unterschieden. In der Soziologie wird eher von Milieus gesprochen und derzeit zehn verschiedene Milieus unterschieden. Das Sinus-Institut weist Arbeiterinnen und Arbeiter dem traditionellen Milieu zu und benennt dazu, dass als Kennzeichen die Anpassung an die Notwendigkeiten sowie zunehmende Resignation und das Gefühl des Abgehängtwerdens. Wo ist da eine starke, selbstbewusste Arbeiterkultur?

 

Arbeiterkultur ist stark mit den Gewerkschaften verbunden. Sie traten und treten nicht nur für höhere Löhne und Gehälter ein, sondern auch für den Zugang zu Bildung und für Chancengerechtigkeit. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen, die traditionell am 1. Mai eröffnet werden, gingen aus einer Solidaritätsaktion von Bergarbeitern mit Hamburger Schauspielern hervor. Sie unterstützten 1948 die Schauspieler mit Kohlen, die Schauspieler dankten im Jahr darauf mit Auftritten in Recklinghausen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund ist nach wie vor Träger des Festivals, das in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Häutungen und Wandlungen durchgemacht hat. Von der Hauptzielgruppe Bergarbeiter wurde sich nicht nur deshalb verabschiedet, weil es keine Bergarbeiter mehr im Ruhrgebiet gibt, sondern weil sich die Sozialstruktur insgesamt radikal verändert hat.

 

In Westdeutschland war es in den 1970er Jahren die SPD, die in den Bundesländern, in denen sie regierte, die Zugangsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen aus den Nicht-Akademiker-Familien zu höherer Bildung ermöglichte. Ich selbst, der ich in Rheinland-Pfalz an der hessischen Grenze aufwuchs, profitierte von den hessischen Bildungsreformen und konnte nach der Hauptschule meine Schullaufbahn im damaligen linken Hessen fortsetzen. Obwohl inzwischen ein wesentlich größerer Anteil an Schülerinnen und Schülern höhere Bildungsabschlüsse erreicht, ist es nach wie vor so, dass Kinder und Jugendliche von Akademikerinnen und Akademiker eher Abitur machen und studieren als es bei Kindern und Jugendlichen der Fall ist, die aus einem nicht-akademischen Elternhaus stammen.

 

Doch ist es tatsächlich ein unumstößliches Ziel, dass Arbeiterinnen und Arbeiter ihre „Klasse“ verlassen wollen? Ist es anstößig, Arbeiter oder Arbeiterin zu sein? Und welches Bild von Arbeiterinnen und Arbeitern haben wir? Sind es diejenigen, die in der Automobilindustrie arbeiten und Einkommen erreichen, von denen mancher Künstler oder manche Künstlerin nur träumen kann? Sind Arbeiterinnen und Arbeiter, diejenigen, die in den Ländern des globalen Südens unsere Kleidung nähen, die hier zu Spottpreisen verschleudert wird? Sind es die Kinder, die in afrikanischen Minen unter schrecklichsten Umständen Kobalt für die Lithium-Ionen-Akkus unserer Handys schürfen. Oder sind es nicht auch jene, die bei amazon unter schwierigen Arbeitsbedingungen schuften, die bei Paketdiensten sich jeden Tag die Hacken ablaufen, die nachts Büros sauber machen, wenn sie nicht längst in Kurzarbeit geschickt oder entlassen wurden, weil viele Büros in der Corona-Krise verwaist sind? Und Arbeiter machen kein Homeoffice!

 

War Arbeiterschaft nicht immer schon mehr und differenzierter als das Bild vom männlichen Industriearbeiter in der Bergbau- oder in der Metallindustrie? Und heißt das nicht auch, dass die kulturell vermittelten Bilder von Arbeiterinnen und Arbeitern nur einen Ausschnitt abgebildet haben. In diesem Schwerpunkt wird sich der Frage gewidmet, was Arbeiterkultur heute ist und welche Traditionen bestehen.

 

Bertolt Brecht und Hanns Eisler haben den berühmten Schlusssong für den Film „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ geschrieben und komponiert. Im Refrain heißt es: „Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht! Beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nie vergessen: die Solidarität!“ Dieses idealisierte Arbeiter-Bild ist bei uns Vergangenheit, aber das bedeutet nicht, das es keine Arbeiter mehr geben würde und mit ihnen auch keine Arbeiterkultur.
Ihr

 

Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
Twitter: olaf_zimmermann

 

PS. Ihre Reaktion auf meinen letzten Newsletter und mein kleiner Text über mein Stottern war überwältigend. Danke!

 


 

Thema: Arbeiterkultur

 

 


 

Woche der Meinungsfreiheit 3. – 10. Mai

 

Debatte, Austausch, Argument und Gegenargument – und das alles mit Respekt vor dir, mir und uns! Gemeinsam wollen wir während der Woche der Meinungsfreiheit mit der Charta der Meinungsfreiheit sowie Aktionen, Veranstaltungen und Projekten ein Bewusstsein schaffen und offen diskutieren. Sei dabei, engagiere dich, mit deiner eigenen Idee oder mit anderen, denn nur zusammen können wir zeigen: Meinungsfreiheit ist #mehralsmeinemeinung.

 

Alexander Skipis vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat uns sechs Fragen zur Woche der Meinungsfreiheit beantwortet. Lesen sie seine Antworten hier.

 


 

Veranstaltungshinweis Deutschlandfunk Kultur Heute, 07. Mai, 18.05

 

Schon vor Corona suchten Theater, Museen und Orchester wie auch die Kirchen nach neuen Publikumsgruppen. Die Lockdowns scheinen den Schwund beschleunigt zu haben. Kommt das Publikum zurück, wenn Kultureinrichtungen und Kirchen wieder öffnen?

 

Das Gespräch wird heute, Freitag, den 7. Mai 2021, von 18:05 bis 19:00 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur in der Sendung „Wortwechsel“ ausgestrahlt.
Gesprächspartner:

 

  • Dr. Vera Allmanritter (Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung)
  • Dorte Eilers (Kulturjournalistin)
  • Bischof Dr. Christian Stäblein (EKBO)
  • Olaf Zimmermann (Deutscher Kulturrat)

 

Moderation:

 

  • Hans Dieter Heimendahl (Deutschlandfunk Kultur)

 

Das „Kultur.Forum St. Matthäus“ ist das kulturpolitische Forum von Stiftung St. Matthäus, Deutschem Kulturrat, Kulturbüro der EKD, Initiative kulturelle Integration und Deutschlandfunk Kultur.

 


 
Die Initiative kulturelle Integration lädt zu ihrer vierten Jahrestagung am 8. Juni 2021 ein

 

„Erwerbsarbeit ist wichtig für Teilhabe, Identifikation und sozialen Zusammenhalt“, so lautet die These 14 der 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration, die den Fokus der vierten Jahrestagung bildet. Im Jahr 2016 hat das breite Bündnis von 28 Institutionen und Organisationen aus Zivilgesellschaft, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Sozialpartnern, Medien, Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden die 15 Thesen für „Zusammenhalt in Vielfalt“ als Grundlage für die kulturelle Integration aller in Deutschland lebenden Menschen formuliert.

 

U.a. mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters MdB; Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes; Hubertus Heil MdB, Bundesminister für Arbeit und Soziales und Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des dbb beamtenbund und tarifunion.

 

Coronabedingt wird die Jahrestagung aus dem dbb forum berlin live gestreamt.

 

  • Hier finden Sie das detaillierte Programm der Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration.
  • Hier geht es direkt zur Anmeldung für die Online-Workshops.

 


 

Ankunft im Alltag. Künstler im vereinigten Deutschland

 

Mit der deutschen Einheit kam es zu einem grundlegenden Wandel der kulturellen Infrastruktur in Ost und West. Dieser ging mit gravierenden Veränderungen für die Künstlerinnen und Künstler einher. Die Erfahrungen mit der Vereinigung zweier verschiedener Kulturlandschaften und die Veränderungen des deutschen Kulturbetriebs nach 30 Jahren Einheit sind für den Einzelnen sehr unterschiedlich und geben Anlass zu vielen Fragen.

 

Wie veränderte sich das Schaffen für die Akteurinnen und Akteure seit der Einheit? Wie wurden und werden die Revolutions- und Transformationserfahrungen in Kunst und Kultur verarbeitet? Und wie vereint ist die Kunst- und Kulturszene heute? Die zweite Veranstaltung der Reihe »Zukunftswerkstatt Einheit« möchte die Entwicklung eines gesamtdeutschen Kulturbetriebs nach 30 Jahren deutscher Einheit thematisieren, das Spannungsfeld zwischen Ost und West vermessen und nicht zuletzt nach dem Gewicht der Kultur in Politik und Gesellschaft fragen.

 

Es wirkten mit:

 

  • Dr. Frank Hoffmann, Institut für Deutschlandforschung der Ruhr-Universität Bochum;
  • Dr. Ulrike Lorenz, Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar;
  • Olaf Zimmermann; Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates e. V.

 

Moderation:

 

  • Jana Münkel, Deutschlandfunk Kultur

 

Eine Veranstaltung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und ALEX Berlin.

 

ALEX Berlin sendet die Diskussion am 06.04.2021 live. Die Diskussion kann hier bei Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nachgesehen werden.

 


 

Text der Woche: Barbara Gessler „Kulturagenda der Europäischen Union – Förderprogramm Kreatives Europa 2021-2027 geht weiter“

 

Erst mit der Zustimmung durch das Europäische Parlament Mitte Mai findet formell die fast genau dreijährige Verhandlungsphase über das einzige, exklusiv dem europäischen Kultur- und Kreativbereich gewidmete, Förderprogramm Kreatives Europa 2021-2027 ihr Ende. Ursprüngliche Ideen, die Förderung zu einem Teil des Programms „Rechte und Werte“ zu machen, wurden durch den Kommissionsvorschlag im Mai 2018 ad acta gelegt. Auch wenn unbestritten ist, dass Kultur in Europa als Ausdruck und fester Bestandteil seiner gemeinsamen Werte wahrgenommen wird, ist diese Entscheidung deshalb erwähnenswert, als trotz der Tendenz zu insgesamt größeren und umfassenden Programme bewusst ein fokussiertes und, im Vergleich, bescheiden ausgestattetes Programm weitergeführt werden kann.

 

Barbara Gessler ist Head of Unit Creative Europe bei der Europäischen Kommission.

 

Lesen Sie den Text hier!

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