Documenta: Kunstfreiheit sichern und stärken, Strukturen verbessern

Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Zukunft der documenta

Berlin, den 07.12.2022. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, positioniert sich mit dieser Stellungnahme zur documenta und macht Vorschläge zur künftigen Struktur. Er enthält sich dabei einer inhaltlichen oder kunstkritischen Bewertung der im September dieses Jahres zu Ende gegangenen documenta 15 oder ihrer Vorgänger. Er unterstreicht, dass die letzten documenten Anlass für Diskussionen über strukturelle Defizite bieten.

 

Seit 1955 findet in regelmäßigen Abständen, seit 1972 alle fünf Jahre, die documenta in Kassel statt. Sie dauert jeweils 100 Tage und ist ein bedeutendes nationales und internationales Kunstereignis. Die documenta ist seit ihrer Gründung starken Wandlungen unterworfen. Sowohl im Selbstverständnis als auch in der inhaltlichen Konzeption wurde sie verändert und weiterentwickelt.

 

Aktuelle Entwicklungen der zeitgenössischen bildenden Kunst wurden und werden auf der documenta präsentiert. Seit der von Catherine David kuratierten documenta 10 (1997) wird vermehrt zeitgenössische Kunst aus dem Globalen Süden gezeigt. Die documenta steht seit vielen Jahren in einem Spannungsfeld zwischen Kunstmarkt und nicht marktförmigen Ausdrucksformen der bildenden Kunst. Sie ist damit auch ein Seismograf für Entwicklungen und Diskurse in der zeitgenössischen bildenden Kunst. Sie ist neben den Donaueschinger Musiktagen für die Musik ein weiteres Beispiel dafür, dass in Deutschland zeitgenössisches künstlerisches Schaffen abseits der „Kunstmetropolen“ einen Ort hat und ein Publikum in Deutschland und der ganzen Welt findet. Die documenta kann damit ein Beispiel des gelebten Kulturföderalismus sein, der auf dem Zusammenwirken von Kommune, Land und Bund beruht.

 

Im Vordergrund der Diskussionen um die documenta 14 stand das am Ende ermittelte finanzielle Defizit, von der documenta 15 bleibt vor allem die Debatte um Antisemitismus in der Kunst als Eindruck zurück. Diese beiden vordergründigen Eindrücke und Diskussionen werden der Bedeutung der documenta für die zeitgenössische bildende Kunst und ihrer Möglichkeiten gesellschaftliche Debatten anzustoßen nicht gerecht.

 

Die Ausstellung documenta ist Teil einer gemeinnützigen GmbH, der documenta und Museum Friedericianum gGmbH. Ihr gehören noch weitere Institutionen wie das documenta-Archiv, das documenta-Institut und die documenta-Halle an. Gesellschafter der genannten gGmbH sind das Land Hessen und die Stadt Kassel. Die Stadt Kassel stellt mit ihrem Oberbürgermeister den Aufsichtsratsvorsitzenden. Der Bund stellt über die Kulturstiftung des Bundes im Rahmen einer Projektförderung Mittel zur Finanzierung der Ausstellung documenta zur Verfügung. Er ist im Aufsichtsrat nicht vertreten. In den Augen der Öffentlichkeit spielt der Bund dennoch eine wichtige Rolle.

 

  • Angesichts der nationalen und internationalen Relevanz der documenta fordert der Deutsche Kulturrat, dass die documenta künftig im Sinne eines kooperativen Kulturföderalismus von der Stadt Kassel, dem Land Hessen und dem Bund finanziert wird. Alle drei Partner müssen mit Stimmrecht im Aufsichtsrat vertreten sein.

 

Der Aufsichtsrat bestellt die Geschäftsführung sowie die Findungskommission, die die künstlerische Leitung, also den künstlerischen Kurator, die Kuratorin oder das kuratorische Team, vorschlägt. Die Entscheidung über die künstlerische Leitung trifft der Aufsichtsrat. Ein Problem der letzten documenten war auch der Wechsel der Geschäftsführungen sowie offenbar ungeklärte Kompetenzen zwischen Geschäftsführung und künstlerischer Leitung.

 

Der Deutsche Kulturrat unterstreicht, dass die Freiheit der Kunst nicht zur Disposition gestellt werden darf. Die Kunstfreiheit muss für die künstlerische Leitung uneingeschränkt gelten. Dazu gehört selbstverständlich künstlerische Positionen jenseits des Mainstreams zu zeigen, die auf Unverständnis stoßen oder zu Widerspruch aufrufen. Gleichzeitig betont der Deutsche Kulturrat, dass kuratorisches Arbeiten mit Verantwortung für die gezeigten Werke und die möglicherweise ausgelösten Reaktionen verbunden ist. Kuratorische Arbeit bedeutet die Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit aktuellen, weltweiten Tendenzen in der bildenden Kunst, eine gewissenhafte Vorbereitung und die Fähigkeit kuratorische Entscheidungen zu kommunizieren sowie in einen Dialog mit Publikum und Öffentlichkeit zu treten.

 

  • Der Deutsche Kulturrat stellt fest, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie z. B. Antisemitismus, Antiziganismus oder Rassismus auf der documenta keinen Platz haben dürfen.

 

Der Verantwortung kuratorischer Arbeit muss sich auch die Findungskommission bewusst sein. Die neu zu bildende Findungskommission steht vor der Aufgabe, eine künstlerische Leitung für die documenta 16 vorzuschlagen.

 

  • Der Deutsche Kulturrat fordert die neu zu bildende Findungskommission auf, sich weiterhin risikofreudig auf die Suche nach einer künstlerischen Leitung für die documenta 16 zu machen. Mut wird sich auch darin erweisen, zu reflektieren und zu bedenken, welche inhaltliche Verantwortung und kommunikativen Aufgaben die künstlerische Leitung hat. Bereits die Findungskommission steht vor der Aufgabe, der künftigen künstlerischen Leitung zu vermitteln, dass jegliche gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie Antisemitismus, Antiziganismus oder weitere Formen des Rassismus, auf der documenta keinen Platz hat.

 

An die künftige Geschäftsführung der documenta sind höchste Ansprüche zu richten. Sie hat eine Mittlerrolle in vielfacher Hinsicht und steht – da selbst nicht künstlerisch tätig – in einer unmittelbaren kulturpolitischen Verantwortung. Sie trägt die finanzielle Verantwortung und muss daher die Kompetenz sowie die Stärke gegenüber der künstlerischen Leitung haben, bei abzusehenden Budgetüberschreitungen einzuschreiten und gegebenenfalls den kulturpolitischen Kontext mit der Freiheit der Kunst in Ausgleich zu bringen. Das kann auch bedeuten, künstlerische Vorhaben einzugrenzen. Gleichzeitig muss sie vertrauensvoll mit der künstlerischen Leitung zusammenarbeiten und mitverantwortlich zwischen künstlerischer Leitung, Aufsichtsrat und kritischer Öffentlichkeit vermitteln. Die Geschäftsführung muss die nationalen und internationalen künstlerischen, kunsttheoretischen und kulturpolitischen Debatten kennen und diese insbesondere in das Begleitprogramm integrieren. Sie muss sensibel zwischen Öffentlichkeit, Aufsichtsrat und künstlerischer Leitung agieren.

 

  • Der Deutsche Kulturrat empfiehlt, die Aufgaben der Geschäftsführung entsprechend der Bedeutung zu beschreiben und die Stelle mit einer Persönlichkeit oder einem Team zu besetzen, das den administrativen, inhaltlichen und kommunikativen Aufgaben gerecht wird.

 

Diverse Kulturinstitutionen verfügen über Beiräte. Diesen Beiräten gehören Expertinnen und Experten aus dem jeweiligen Arbeitsfeld bzw. von gesellschaftlichen Gruppen an. Die Beiräte haben eine beratende Funktion. Sie werden frühzeitig informiert und können so auf mögliche Probleme aufmerksam machen. Beiratsmitglieder sind zugleich Fürsprecher für die Institutionen.

 

  • Der Deutsche Kulturrat empfiehlt, einen Beirat zur documenta einzurichten. Der Beirat soll vom Aufsichtsrat berufen und mit nationalen und internationalen Expertinnen und Experten besetzt sein. Seine Zusammensetzung soll gewährleisten, dass sowohl künstlerische als auch gesellschafts- und kulturpolitische Positionen vertreten sind. Er hat eine beratende Funktion.

 

Der Deutsche Kulturrat wirft darüber hinaus die Frage auf, ob die Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH für die documenta adäquat ist. Er regt an, die Errichtung einer Stiftung bürgerlichen Rechts zur Durchführung der documenta zu prüfen. Stiftungszweck der documenta Stiftung wäre die Vorbereitung und Ausrichtung der documenta alle fünf Jahre. In der Stiftungssatzung müssten die Aufgaben und jeweilige Kontrollfunktion der jeweiligen Gremien beschrieben werden. Der Ewigkeitscharakter einer Stiftung verleiht ihr Unabhängigkeit gegenüber Politik und Verwaltung und verpflichtet sie allein ihrem Stiftungszweck.

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