Kulturerbe und Digitalisierung

Stellungnahme des Deutschen Kulturrates

Berlin, den 31.03.2016. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, hat in verschiedenen Stellungnahmen die Digitalisierung des kulturellen Erbes angesprochen. Eine grundlegende Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zu den Chancen und Risiken, den Erwartungen und den Anforderungen der Digitalisierung von Kulturerbe fehlte aber bislang. Diese Lücke will der Deutsche Kulturrat nun schließen. Der Deutsche Kulturrat konzentriert sich hier auf die Digitalisierung als Möglichkeit zur Verfügbarmachung, Vermittlung und Sicherung des Kulturerbes. Sein Anliegen ist dabei, den Mehrwert der Digitalisierung des Kulturerbes aufzuzeigen. Zum Erhalt der physischen Substanz des Kulturerbes wird er sich mit einer eigenen Stellungnahme positionieren.

 

Im Deutschen Kulturrat sind Verbände und Organisationen aus den verschiedenen künstlerischen Sparten und kulturellen Arbeitsfeldern zusammengeschlossen. Ihm gehören sowohl Verbände und Organisationen der Künstler, der Kultureinrichtungen, der Kulturvereine als auch der Kulturwirtschaft an. Der Deutsche Kulturrat konzentriert sich in seinen Stellungnahmen auf spartenübergreifende Fragestellungen, insofern werden die Anforderungen aus den verschiedenen künstlerischen Sparten und Arbeitsfeldern stets nur beispielhaft genannt.

 

In dieser Stellungnahme geht es um die Speicherung, die Zugänglichmachung und die Weitergabe des materiellen und immateriellen Kulturerbes in digitaler Form.

 

Der Deutsche Kulturrat unterstreicht mit dieser Stellungnahme, dass der Begriff des Kulturerbes ein offener Begriff ist. Die Wertschätzung, aber auch das Vergessen und das Wiederentdecken von Kulturerbe ist unter anderem vom gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs abhängig. Das Kulturerbe hat sowohl eine lokale, eine regionale als auch eine nationale bzw. internationale Dimension. Es umfasst das materielle Kulturerbe wie Bau- und Bodendenkmäler jeder Art sowie die Bestände von Archiven, Bibliotheken und Museen mit unterschiedlichsten Inhalten und Formen der kulturellen und wissenschaftlichen Überlieferung, also Werken der bildenden Kunst und des Designs, Archivalien, Handschriften, Filmen, Musikalien, Fotografien und Tonträgern. Es umfängt ebenso das immaterielle Kulturerbe wie mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, Bräuche bzw. das Wissen und die Weitergabe von kulturellen Praxen. Anders als bei dem materiellen Kulturerbe existiert das immaterielle Kulturerbe nicht physisch, es manifestiert sich vielmehr im flüchtigen Moment der von Menschen durchgeführten Performanz. Daher kommt denjenigen, die es audiovisuell aufzeichnen, eine besondere Verantwortung zu, da sie die Wahrnehmung des immateriellen Erbes im kulturellen Gedächtnis maßgeblich prägen. Ausdrücklich werden hier auch Kulturgüter eingeschlossen, die von vorneherein digital entstanden sind wie beispielsweise bestimmte Werke der bildenden Kunst oder auch Computerspiele. Diese Arbeiten werden aufgrund ihrer virtuellen Natur und der oft handlungserfordernden Interaktivität einerseits dem immateriellen Kulturerbe zugeordnet, andererseits sind sie immer auch auf einem Trägermedium gespeichert, womit sie ähnlich der Musik auf Tonträgern auch dem materiellen Kulturerbe zugeordnet werden können.

 

Chancen der Digitalisierung

Die Digitalisierung eröffnet Chancen, um Kulturgut ortungebunden und barrierearm zugänglich zu machen und vielschichtig zu präsentieren. Dazu gehört die spartenübergreifende Präsentation in Wissensspeichern, die die Beziehungen zwischen den verschiedenen künstlerischen Genres sichtbar machen kann. Die digitale Präsentation von Werken erhöht die internationale Sichtbarkeit von Kulturgut und eröffnet innovative Möglichkeiten der Verknüpfung von Kultur und Wissenschaft.

 

Kultur- und geisteswissenschaftliche Expertise und Forschung sind eng miteinander verbunden. Durch Digitalisierung eröffnen sich neue Perspektiven der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kulturgut. Hier entstehen derzeit Netzwerke von kulturell und wissenschaftlich Interessierten, die nicht in Wissenschafts- oder Forschungseinrichtungen arbeiten, die einen eigenen Beitrag zur Erforschung von Kulturgut leisten. Interessengruppen und „scientific communities“ finden in Netzwerken im kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs neu zueinander.

 

Datenbanken und Portale mit digitalisiertem Kulturgut eröffnen direkte und neuartige Zugänge zu Kunst, Kultur und Wissenschaft. Sie leisten damit einen Beitrag zur kulturellen Bildung, zur Teilhabe an Kunst und Kultur sowie zum lebensbegleitenden Lernen. Das gilt insbesondere für Menschen, die in räumlicher Entfernung zu Kultureinrichtungen leben wie auch für Menschen mit Handicap. Barrierefreie Datenbanken können auch zur Inklusion beitragen, was besondere Maßnahmen erfordert.

 

Erwartungen an die Digitalisierung

Das technische Digitalisat allein bietet noch keinen ausreichenden Mehrwert. Die Erarbeitung und Einhaltung übergreifend gültiger technischer Standards sind notwendig, um die Nachnutzbarkeit der Digitalisate in Kultur, Bildung und Wissenschaft sicherzustellen. Der Mehrwert solcher Digitalisate hängt vor allem von ihrer jeweiligen Erschließung über Metadaten ab. Hierbei ist zwischen allgemeinen Mindeststandards und spezifischen Anforderungen der verschiedenen Zielgruppen zu unterscheiden. Für alle Nutzer muss ersichtlich sein, wo sich das digitalisierte Original befindet, das jeweilige Objekt muss nach definierten Mindeststandards formal korrekt beschrieben und dadurch zweifelsfrei identifizierbar sein. Wissenschaftler und wissenschaftlich Interessierte benötigen darüber hinaus je nach Fragestellung weiterführende Zusatzinformationen oder eine spezielle Tiefenerschließung der digitalisierten Quelle, um zu neuen Informationen, Fragestellungen und Erkenntnissen zu gelangen. Zugleich gibt es eine große Bandbreite an Nutzungsmöglichkeiten für den Bürger.

 

Die Präsentation von Digitalisaten muss einerseits zielgruppengerecht erfolgen, andererseits Nachnutzungen für andere Zielgruppen ermöglichen, um Doppeldigitalisierung möglichst zu vermeiden. Hierzu können die Fachverbände des Kulturbereiches einen wichtigen Beitrag leisten.

 

Der Umgang mit digitalen Wissensspeichern ist nicht per se ein Beleg für das Bewusstsein für den Wert kreativer Leistungen. Ziel muss sein, die digitalen Wissensspeicher so aufzubauen, dass sie den Wert kreativer Leistungen deutlich machen. Der Respekt vor dem schöpferischen Akt ist zu wahren und das Recht des Urhebers und anderer Rechteinhaber sind unabdingbar zu gewährleisten.

 

Anforderungen an die Digitalisierung

Sorgfältiger Umgang mit den Originalen

Der Schutz des Originals steht grundsätzlich an erster Stelle. Die Digitalisierung darf das Objekt nicht gefährden, soll vielmehr die intensive Nutzung bei gleichzeitiger künftiger Schonung des Originals unterstützen. Kulturgüter müssen sorgfältig digitalisiert werden. Dies erfordert den sachverständigen Umgang mit dem teilweise sehr alten und empfindlichen Kulturgut. Hier besteht eine große konservatorische

Verantwortung dem Original gegenüber.

 

Digitalisierung ersetzt nicht das Original und dessen physischen Erhalt

Digitalisate können das Original nicht ersetzen. Sie sind lediglich ihr Abbild verbunden mit Informationen zu Herkunft, Urheber, Alter und Materialität oder Momentaufnahmen einer dynamischen kulturellen Ausdrucksform. Deshalb sind sowohl Erhalt und Restaurierung von Kulturgut als auch der Schutz von Habitus und Habitat der Akteure immateriellen Kulturerbes eine eigenständige Aufgabe. So ist es beispielsweise eine nicht akzeptable Praxis, dass Filmmaterial nach der Digitalisierung vernichtet wird. Zum physischen Erhalt von Originalen und den besonderen Herausforderungen bei der Digitalisierung des immateriellen Kulturerbes wird sich der Deutsche Kulturrat in gesonderten Stellungnahmen positionieren.

 

Digitalisierung verlangt nationale Initiative

Die Digitalisierung des Kulturerbes wird derzeit von verschiedenen Seiten vorangetrieben. Entscheidende Impulse sind von der Wissenschaft, gefördert durch Maßnahmen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Wissenschaftsministerien der Länder sowie den großen Forschungseinrichtungen ausgegangen. Diese Initiativen gilt es stärker mit den Digitalisierungsmaßnahmen aus dem Kulturbereich, also denen Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Kulturministerien der Länder und der Kommunen, zu vernetzen und in Zusammenarbeit mit den Fachverbänden sowie Stiftungen und anderen Akteuren zu einer nationalen Digitalisierungsstrategie weiterzuentwickeln. Hierzu gehört es, ein vermehrtes Augenmerk auf die Interoperabilität, die technischen Standards, die Kompatibilität und Präsentation der Daten sowie ihre Langzeitverfügbarkeit zu richten. Dies sollte vor dem Hintergrund internationaler Diskussionen und Entwicklungen geschehen.

 

Digitalisierung ist keine einmalige Maßnahme

Das Bewusstsein für die Digitalisierung als Daueraufgabe muss geschärft werden. Die Digitalisierung des Kulturerbes ist keine einmalige Aufgabe, sondern verlangt kontinuierliche, nachhaltige Anstrengungen. Die digitale Langzeitarchivierung und -verfügbarhaltung ermöglicht die Erhaltung und Nutzung digitaler Informationen als wichtigen Bestandteil unseres kulturellen und wissenschaftlichen Erbes für zukünftige Generationen. Das ist eine Daueraufgabe und kann nicht über zeitlich begrenzte Projektfinanzierungen gesichert werden.

 

Digitalisierung von Kulturgut verlangt wissenschaftliche Expertise und Forschung

Die verantwortungsbewusste Nutzung eines Digitalisats für wissenschaftliche Zwecke verlangt Kenntnisse und Kompetenzen zur Einordnung und Deutung von Dokumenten. Um Digitalisate nutzbar zu machen, müssen sie professionell erfasst, aufbereitet und gepflegt werden. Wesentlich sind hierbei der Beitrag und die fortlaufende Ergänzung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse. Damit wird deutlich, dass es sich bei der Erschließung von Digitalisaten um eine Langzeitaufgabe für Kultur und Wissenschaft handelt.

 

Digitalisierung und Technik

Die Digitalisierung von Kulturgut erfordert daher, kontinuierlich neue technische Verfahren der Digitalisierung zu entwickeln.

 

Digitalisierung erfordert Bewahrungsstrategie

Um digitalisierte oder digital geschaffene Kunstgüter für die nachfolgenden Generationen zu bewahren, bedarf es anderer Werkzeuge, Techniken und Strategien als für den Erhalt analoger Kulturgüter. Den Chancen der Zugänglichmachung stehen dabei Risiken gegenüber, die vor allem durch die Abhängigkeit von komplexen Techniken (Hardware/Betriebssoftware) und deren schnelle Alterung in einem privatwirtschaftlich dominierten und hoch dynamischen Umfeld bedingt sind. Als wirksame Sicherungsmaßnahme sollten möglichst offene Standards etabliert werden, was nur über breit angelegte, branchenübergreifende Kollaborationen und Informationsinfrastrukturen denkbar ist.

 

Digitalisierung schließt Respekt vor dem Recht des Urhebers und anderer Rechteinhaber ein

Im bestehenden Urheberrecht gibt es zahlreiche Bestimmungen, die die Rechte der Urheber und anderen Rechteinhaber zugunsten von Wissenschaft, Bildung und Forschung einschränken. In einer eigenen Stellungnahme hat sich der Deutsche Kulturrat zur Diskussion einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke positioniert, auf die hier verwiesen wird.

 

Der Deutsche Kulturrat begrüßt, dass die Bundesregierung Regelungen zur digitalen Zugänglichmachung vergriffener gedruckter Werke ergriffen hat, die es den Verwertungsgesellschaften ermöglichen, mit Bund und Ländern Verträge zur öffentlichen Zugänglichmachung von vergriffenen Werken zu schließen. Auf dieser Grundlage entsteht auch ein Register vergriffener Werke.

 

Die angemessene Vergütung von Urhebern und anderen Rechteinhabern ist auch mit Blick auf die Zugänglichmachung von Digitalisaten für den Deutschen Kulturrat ein unverrückbarer Grundsatz. Dieses gilt ebenso für die Persönlichkeitsrechte der Urheber. Gleichfalls unterstreicht der Deutsche Kulturrat, dass urheberrechtliche Rechtsverstöße geahndet werden müssen.

 

Deutsche Digitale Bibliothek weiterentwickeln

Die Deutsche Digitale Bibliothek bleibt bislang hinter den mit ihr verbundenen Erwartungen zurück. Kultureinrichtungen digitalisieren auf eigene Kosten Objekte und liefern die Daten der Deutschen Digitalen Bibliothek. Bislang ist nicht erkennbar, an welche Nutzergruppen sich die Deutsche Digitale Bibliothek richtet. Das führt dazu, dass die Deutsche Digitale Bibliothek in ihrer jetzigen Form weder der Wissenschaft die erforderlichen Fachinformationen, noch den interessierten Bürgerinnen und Bürgern einen unkomplizierten Zugang mit den notwendigen Sachinformationen bietet. Auch ist die Kompatibilität mit europäischen Initiativen wie der digitalen Europäischen Bibliothek (Europeana) nicht ausreichend gegeben. Eine bessere Abstimmung der Schnittflächen von nationalen und europäischen Initiativen ist daher notwendig. Würde die Deutsche Digitale Bibliothek als öffentlich finanzierte „Kultur-Suchmaschine“ (Navigator) weiterentwickelt werden, die sich verstärkt an nicht-wissenschaftliche Nutzer richtet, könnte das Profil geschärft werden. Dafür ist es erforderlich, dass sinnvolle Algorithmen entwickelt werden und die vorhandenen Digitalisate besser erschlossen werden. Auch sollte die Deutsche Digitale Bibliothek mehr Verantwortung übernehmen, den Respekt vor den Rechten der Urheber und anderer Rechteinhaber zu vermitteln und zu schärfen.

 

Digitalisierung bedarf umfänglicher und dauerhafter Ressourcen

Angesichts der großen Aufgabe der Digitalisierung müssen dauerhaft ausreichend personelle und finanzielle Ressourcen bereitgestellt und möglichst große Synergien angestrebt werden. Dazu zählt einerseits auch, dass kleinere Institutionen in die Lage versetzt werden, über einschlägige und koordinierte öffentliche Förderprogramme Digitalisate bereitstellen zu können. Andererseits muss gerade für die Absicherung des Beitrags kleinerer Institutionen die Aufgabe der Langzeitarchivierung und -verfügbarhaltung als öffentlich getragene Daueraufgabe gesichert sein.

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