„Gerhart Baums Lebensthema ist die Freiheit“

Laudatio auf den Kulturgroschenpreisträger 2019 Gerhart R. Baum

„Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert.“ So schloss Nelson Mandela seine Autobiografie mit dem Titel „Der lange Weg zur Freiheit“.

 

Diese so einfache und doch so grundlegende Erkenntnis, dass die Freiheit des Einzelnen ganz wesentlich den Schutz von Minderheiten, von anderen Meinungen und Interessen einschließt, ist wegweisend für jede demokratische Gesellschaft.

 

Um Gerhart Baum für seine Leistungen zu ehren, möchte ich den Zusammenhang zwischen Freiheit, Demokratie und Kultur anhand seines Lebenswerks nachvollziehen, schließlich werden seine Person und sein Wirken ganz wesentlich mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht.
Gerhart Baum wird von der Öffentlichkeit vor allem wahrgenommen als ehemaliger Bundesinnenminister während der RAF-Zeit und als Kämpfer für Bürger- und Menschenrechte. Er ist als Diskussionspartner zu aktuellen Themen gefragt, vor allem wenn es um den Verlust von Privatsphäre, um Datenschutz, um die Entwicklungen nach dem 11. September, kurz, um die Gefahren des Überwachungsstaats geht.

 

Was sein privates wie sein politisches Leben jedoch ebenfalls durchzieht, ist der überzeugte Einsatz für die Kultur. Gegen einen schleichenden Freiheitsverlust setzt er sich nicht nur allgemeinpolitisch ein, er kämpft auch für die Freiheit und für die Förderung der Kultur.

 

Sein Engagement in all diesen Bereichen geht auf die gleiche Grundüberzeugung, auf die gleiche Vision zurück, und so ist es nur konsequent, dass Gerhart Baum vom Deutschen Kulturrat nicht nur für seine kulturpolitische Arbeit, sondern auch für seinen Einsatz für Menschenrechte, Bürgerrechte und Meinungsfreiheit mit dem 25. Kulturgroschen geehrt wird.

 

Ich habe den höchsten Respekt für Gerhart Baums alle Sparten umfassende Leidenschaft für die Kultur und die nie nachlassende Energie, mit der er zu seinen Überzeugungen steht und ihnen Taten folgen lässt. Gerhart Baum findet sich nicht mit negativen Entwicklungen ab, sondern kämpft notfalls gegen sie. Er scheut sich nicht, Minderheitenpositionen zu vertreten und sich notfalls unbeliebt zu machen. Er will den Dingen auf den Grund gehen und Neues verstehen lernen. Er selbst versucht, der Bürger zu sein, den er sich für eine gelungene Demokratie vorstellt: neugierig, freiheitsliebend und verantwortungsbewusst.

 

In Nordrhein-Westfalen wollen wir Gerhart Baum gerne zum Kölner machen, und da er seit beinahe 70 Jahren dort lebt, ist das naheliegend. Er selbst bezeichnet sich jedoch nach wie vor als Dresdner. Dort, wo er 1932 geboren wurde, überlebte er im Februar 1945 die Bombardierung durch die Alliierten und musste mit seiner Mutter und seinen Geschwistern flüchten. Dieses Trauma war ein einschneidendes Erlebnis, gefolgt von den Entbehrungen der Nachkriegszeit. Der Vater war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Dank zweier väterlicher Mentoren begann er, sich der Kultur und Politik zu widmen, las viel, befasste sich mit den nationalsozialistischen Verbrechen und lernte die so lange verfemte expressionistische Kunst kennen.

 

Zunächst wollte Gerhart Baum Kunstgeschichte studieren, entschied sich dann aber für eine juristische Laufbahn. Er arbeitete als Jurist, schnell trat jedoch die Politik in den Vordergrund. Erst seit Ende der 1980er Jahre arbeitet er wieder als Anwalt. Als solcher setzt er sich, seinen ethischen Prinzipien treu, vorwiegend für Geschädigte ein, die in einer schwachen Position sind. Fördern, was es schwer hat – das ist ein Leitsatz für Gerhart Baum in allen Bereichen, und diesen Anspruch stellt er auch an andere.

 

Seine politische Karriere begann 1969 im Rat der Stadt Köln, wo er unter anderem kulturpolitischer Sprecher der FDP war – der Partei, der er als 22-Jähriger beigetreten war, der er sich allerdings nie unkritisch anpasste. Zehn Jahre war Gerhart Baum Kreisvorsitzender der FDP, von 1966 bis 1998 war er im Bundesvorstand.

 

Anfang der 1970er Jahre wurde Gerhart Baum in der Bundespolitik aktiv. Zunächst wurde er Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, das er als Minister von 1978 bis zum Bruch der Koalition 1982 leitete. Im Innenministerium war er auch für Kultur und Medien zuständig und hat damit in gewisser Weise die Bundeskulturpolitik mit aus der Taufe gehoben. Ihm ist es mit zu verdanken, dass zu dieser Zeit das erste Mal Kulturdebatten im Bundestag geführt wurden.

 

Dadurch wurde die Rolle der Kultur – die ja Ländersache ist – in der Bundespolitik entscheidend gestärkt. In dieser Zeit wurden auch die Gründungen der Künstlersozialkasse angestoßen, der Kunstsammlungen des Bundes und der Bundeskunsthalle in Bonn sowie, nicht zuletzt, des Deutschen Kulturrates, der ihn jetzt ehrt. Auch später, als »einfacher« Bundestagsabgeordneter, setzte er sich weiter für Fragen der Kultur ein.
Gerhart Baum bezeichnet sich als überzeugten Marktwirtschaftler, sagt aber auch: „Der Markt allein schafft keine Werte, die die Gesellschaft braucht“ und erinnert gerne an Wilhelm Röpkes Buchtitel „Jenseits von Angebot und Nachfrage“.

 

Die ethischen Werte und auch die kulturellen Werte einer Gesellschaft zu garantieren, sei unerlässliche Aufgabe der Politik. Ökonomisches Effizienzdenken gehört für Gerhart Baum gerade nicht zu einer liberalen Kulturpolitik.

 

Bekanntlich gibt es allzu oft Gründe, an den Kulturauftrag des Staates erinnern zu müssen. Zum Glück hat Gerhart Baums Stimme Gewicht in der Kulturpolitik. Er war und ist Mitglied einer ganzen Reihe von Gremien, so etwa – um nur eine für mich wichtige Funktion zu nennen – seit 2005 Vorsitzender des Kulturrats NRW, dem er zu einer erheblich größeren Strahlkraft verholfen hat.

 

Gerhart Baum hat wesentlichen Anteil daran, dass dieser Zusammenschluss von über 80 Kulturinstitutionen und -verbänden zu einem kritisch-konstruktiven Begleiter der nordrhein-westfälischen Kulturpolitik geworden ist. Nordrhein-Westfalen profitiert damit besonders von Gerhart Baums Sachkenntnis und Engagement – und auch ich persönlich!

 

Schwerpunkte der Arbeit des Kulturrats NRW sind – wie beim Deutschen Kulturrat – die Schaffung guter Rahmenbedingungen für Künstlerinnen und Künstler, Zukunftsfragen wie das interkulturelle Zusammenleben oder die Digitalisierung sowie der Widerstand gegen jede Erosion der Kulturförderung – in den Haushalten von Land und Kommunen, aber auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

 

Ein beinahe ständiger Kritikpunkt waren in den letzten Jahren die Kürzungen in den Kulturhaushalten des Landes. Wie Sie vielleicht wissen, hat die jetzige nordrhein-westfälische Landesregierung entschieden, den Kultur­etat in dieser Legislaturperiode um 50 Prozent anzuheben. Das erlaubt uns eine umfassende „Stärkungsinitiative“ für die Kultur. Das ist auch Gerhart Baum zu verdanken.

 

Insbesondere die Förderung der Neuen Musik liegt Gerhart Baum am Herzen. Er erlebte im Sendesaal des WDR in Köln früh Musik von Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel und John Cage, vom Studio für elektronische Musik und anderen und vertiefte diese Leidenschaft weiter durch seine Frau Renate, die Musikwissenschaftlerin ist, und durch ihre gemeinsamen Musiker-Freunde.

 

Gerhart Baum pocht darauf, dass Kultur nichts mit Einschaltquoten oder Besucherzahlen zu tun haben darf. Es soll weiterhin Musik-, Kunst- und Literaturgeschichte geschrieben und nicht nur Quote gemacht werden. Auch wenn sich nur eine kleine Zahl von Menschen für komplexe neue künstlerische Entwicklungen interessiert, ist es Teil der Demokratie, diese Entwicklungen zu fördern.

 

Und auch wenn nicht alle Bürgerinnen und Bürger ihre Kreativität ausleben wollen, sollten Künstlerinnen und Künstler doch von allen unterstützt werden. Zugleich sollten für alle Menschen Möglichkeiten geschaffen werden, eine Begeisterung oder zumindest eine Neugier für die Kultur zu entwickeln. Deshalb ist Gerhart Baum ein großer Verfechter der kulturellen Bildung. Er spricht sich nicht nur für Vermittlungsprogramme aus, sondern auch gegen den Abbau der musischen Fächer an Schulen. Kulturelle Bildung ist für ihn sowohl eine Aufgabe der Demokratie als auch ein Mittel zu ihrer Stärkung.

 

Gerhart Baums Lebensthema ist die Freiheit und ihre Sicherstellung auf politischer Ebene. Wie bereits für den Kulturbereich deutlich wurde: Er macht es sich zur Aufgabe, die Position des Einzelnen auf politischem und juristischem Weg zu sichern. Besonders öffentlichkeitswirksam tut er dies beim Schutz der Grund- und Bürgerrechte.

 

Bis zur Verfassungsbeschwerde setzt sich Gerhart Baum mit seinen politischen Freunden bis heute gegen das Eindringen des Staates in die Privatsphäre ein. Ein prominentes Beispiel dafür ist der sogenannte „Große Lauschangriff“, der nach der Beschwerde in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt wurde. Andere erfolgreiche Klagen richteten sich gegen die Genehmigung der Online-Durchsuchung bei Bürgern und gegen die Vorratsdatenspeicherung.

 

Viele Menschen, die jünger sind als Gerhart Baum, haben es nie gelernt, sich im Internet zurechtzufinden, geschweige denn seine Auswirkungen auf die Gesellschaft einzuschätzen. Er jedoch hat die ersten Schritte des Internets miterlebt, und für ihn sind die Konsequenzen des digitalen Wandels ein großes gesamtgesellschaftliches Thema. 2016 hat er unter anderem die „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ mit initiiert. Zu Recht spricht er immer wieder an, dass viel zu viele Bürgerinnen und Bürger ihren Grundrechten relativ gleichgültig gegenüberstehen und mahnt mehr Engagement an.

 

Auch auf internationaler Ebene engagiert sich Gerhart Baum für Menschenrechte: 1992 bis 1998 leitete er die deutsche Delegation der UN-Menschenrechtskommission in Genf und konnte in der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 wichtige Beiträge zur internationalen Stärkung der Menschenrechte leisten. Später wirkte er als UNO-Beauftragter im Sudan.

 

Er bereiste aber auch andere Krisengebiete. Den anfangs zitierten Nelson Mandela lernte er persönlich kennen. Gerhart Baum setzte sich mit seinen Freunden und Kollegen mit der nötigen Wut über die aktuellen Zustände für Verbesserungen der Lebensverhältnisse ein und sah und sieht Deutschland in der Pflicht, sich international für Menschenrechte zu engagieren. Bis heute ist er in Gremien von Amnesty International und Human Rights Watch aktiv. Die gemeinsam mit seiner Frau gegründete „Gerhart und Renate Baum-Stiftung“ vergab dieses Jahr zum zweiten Mal einen Menschenrechtspreis mit einem beeindruckenden Preisträger.

 

Der Anspruch der Gesellschaft an sich selbst ist es, der Gerhart Baum in allen Bereichen umtreibt. Als Demokratie und freies Land muss sich Deutschland für andere einsetzen. Als Demokratie und freies Land muss Deutschland sich auch Kultur leisten. Denn ohne die Kultur, so betont er immer wieder zu Recht, verliert die Demokratie ihre Basis.

 

Vermutlich wäre Gerhart Baum, seinem ersten Impuls nach, auch ein guter Kunsthistoriker geworden, schließlich ist in jedem Bereich die Leidenschaft die Voraussetzung für gute Arbeit.

 

Als „political animal“, wie er sich selbst bezeichnet, mit seinem juristischen Sachverstand, seiner Sprachgewandtheit und seiner streitbaren Persönlichkeit konnte er jedoch breite gesellschaftliche Impulse setzen und gerade auf diese Weise auch der Kultur dienen.

 

Gerhart Baum appelliert an unseren Mut, ja, unsere Verantwortung aufzustehen, wenn unsere Freiheiten eingeschränkt werden, wenn unsere wichtigen Güter und Werte infrage gestellt werden, und ruft uns auf, unser Land mitzugestalten. Er appelliert daran, Kultur als Teil jeder Politik zu begreifen, weil sie Teil von Demokratie ist. Heute, wo die Kunstfreiheit in vielen Ländern, auch in unserem, von manchen wieder infrage gestellt wird, ist sein Vorbild wichtiger denn je.

 

Vielen Dank, lieber Gerhart, dass Du Dein Tun Deinen Überzeugungen gewidmet hast, und herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des Kulturgroschens!

 

Gekürzte Version der Laudatio

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Isabel Pfeiffer-Poensgen
Isabel Pfeiffer-Poensgen ist Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.
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