„Die Stunde, zu spüren, was Frieden und Menschlichkeit bedeuten“

Katja Petrowskaja im Gespräch

Die Schriftstellerin und Journalistin Katja Petrowskaja wuchs in Kiew auf. Seit 1999 lebt sie in Berlin. Sandra Winzer spricht mit ihr über den Krieg in ihrem Geburtsland.

 

Sandra Winzer: Frau Petrowskaja, wie geht es Ihnen im Moment?

Katja Petrowskaja: Es ist solch eine Katastrophe, dass man sich gar nicht richtig selbst fühlt. Ich und die Menschen um mich herum, wir sind alle im Schockzustand und arbeiten durchgehend, um den Krieg anzuhalten und Menschen zu helfen.

 

In Ihren Werken haben Sie sich auch in der Vergangenheit immer wieder mit politischen Konflikten beschäftigt. Erst vor wenigen Tagen schrieben Sie in der FAZ über den „Ukrainischen Widerstand“. Welche Art von Widerstand wünschen Sie sich für die Ukraine?

Es geht um Krieg. Der Widerstand in der Ukraine ist beispiellos. Dabei geht es nicht nur um Armee und territoriale Verteidigung. Die Menschen wollen nicht zu Sklaven werden, sie möchten nicht Teil des Imperiums von Putin sein. Meine Freunde sind noch in Kiew, niemand von ihnen möchte fliehen. Es ist ein Widerstand, und sie helfen allen, die geblieben sind. Trotz der voranrückenden …. ich kann nur schwer darüber sprechen.

 

Was bekommen Sie aktuell mit?

Die Menschen in der Ukraine verstehen nicht, was die russische Armee dort zu suchen hat. Mittlerweile ist seit 22 Tagen Krieg – und obwohl man meinen könnte, es trete Gewöhnung ein, ist jeder Moment so schlimm wie am ersten Tag. Und es eskaliert weiter. Geburtshäuser und Wohnhäuser werden beschossen, das ist kaum zu erklären, sogar das Theater im Mariupol mit tausend Frauen und Kindern! Es gibt Menschen, die sagen: „Die Ukraine muss kapitulieren, dann wird alles gut.“ Russland wird aber nicht stoppen, das zeigt die Kette der bisherigen Ereignisse, und Russland ist für all die Opfer verantwortlich. Dieser Krieg handelt von irrationaler Gewalt. Niemand möchte unmenschliche Monster an der Macht haben, niemand möchte Versklavung. Das meine ich weder pathetisch noch heldenhaft: Die Menschen in Kiew stehen dort für ihr freies Leben ein.

 

Bisher hat, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, nur ein Bruchteil der ukrainischen Menschen das Land verlassen. Sie stehen mit Freunden und Verwandten in Kontakt. Auf welche Weise versuchen Sie, ihnen eine Stütze zu sein?

Seit dem ersten Tag des Krieges habe ich das Gefühl, dass wir eine gemeinsame Mühe aufbringen müssen. Alle arbeiten an Frieden, es entstand eine Art dezentralisierte Kreativität. Ruft eine Familie nach Hilfe? Hat eine alte Frau keine Medikamente? Oder muss ein Waisenhaus evakuiert werden? Wir kämpfen für den Erhalt des Lebens. Ich habe Medikamente besorgt, auch Rettungswesten für Journalisten; habe Geld gesammelt, Übersetzer und Krisenpsychologen gesucht. Ich habe einen Brief in den Vatikan verschickt, alte einsame Menschen kontaktiert. Es gibt tausendfach verrückte Aufgaben.

Ein paarmal war ich am Bahnhof in Berlin und war so erstaunt, wie viele Menschen dort halfen. Menschen, die nie in der Ukraine waren oder mit dem Land etwas zu tun hatten. Dabei geht es nicht um Mitleid, sondern um aktive Hilfe. Es ist überwältigend.

Ich sehe es als meine Aufgabe, die Menschen auch in Deutschland zu unterstützen. Denn dieser Krieg und die Folgen werden uns noch lange begleiten. Der Groll ist unermesslich. Bei mir zu Hause leben auch Geflüchtete, auch meine Mutter kommt bald. Und niemand weiß, wann man zurückkann.

 

Und Ihre Freunde in Kiew?

In der Ukraine selbst rücken die Menschen zusammen. Freunde von mir – eine Flamencotänzerin, eine Kunstmanagerin, eine Ärztin, eine Psychologin – sie alle sind in der Ukraine gerade zusammen in einer Wohnung. Sie rücken zusammen, um den Krieg zu überstehen und um weniger Angst zu haben und sie alle arbeiten als Freiwillige und beliefern Bedürftige mit Lebensmitteln.

 

Aktuell werden Sie von vielen Medien zum Krieg befragt. Kommt es Ihnen merkwürdig vor, sich von hier, aus der „Wiege der Sicherheit“, zu äußern? Oder empfinden Sie sich als Sprachrohr? Wie geht es Ihnen damit?

Jede Form von Hilfe ist wichtig, auch, wenn es „nur“ Aufklärung ist. Ich arbeite gerade als Informationsquelle, verbinde viele Menschen und finde konkrete Hilfe wichtiger als das Wort. Doch Interviews sind wichtig, besonders für Aufklärung. Ich beschäftige mich gerade mit vielen Menschen, die unheimlich viel Einsatz zeigen. Nicht nur bei uns im Land zeigt sich eine große ethische Haltung. Ich spüre, dass wir als Bevölkerung auf der höchsten Stufe versuchen, alles zu geben, um den Krieg zu stoppen. Manchmal äußere ich mich scharf gegenüber der Politik, eventuell zu scharf. Das ist aber ab und an nötig, um Veränderung anzustoßen.

 

Bei „Anne Will“ etwa haben Sie vor wenigen Tagen gesagt: „Jetzt sind wir alle mehr oder weniger in der Falle“. Dabei riefen sie dazu auf, nicht zu zögern, wortwörtlich sagten Sie: „Putin versteht nur Stärke“. Damit meinten Sie allerdings nicht die absolute Eskala­tion, oder?

Was ich sehe: Putin braucht keine Anlässe unsererseits, um zu eskalieren. Er geht den Weg der ständigen Eskalation aufgrund von Vermutungen und Lügen; so beschießt er friedvolle Städte, weil er dort Faschisten vermutet. Ist Putin nicht längst in einem Krieg mit der Nato angekommen? Wir alle, auch ich, haben Angst vor sinnloser Eskalation. Gleichzeitig bin ich sicher: einfach „auf den Knopf“ zu drücken, ist sehr schwierig. Trotzdem sieht Putin, dass wir Angst haben. Wir müssen unsere Städte schützen.

Dafür gibt es auch juristische und völkerrechtliche Optionen. Russland, USA und Großbritannien haben 1994 das Budapester Memorandum unterschrieben, das die Souveränität und die Sicherung der ukrainischen Grenzen garantieren soll. Jetzt hat Russland den Krieg initiiert und die USA und Großbritannien, was machen sie? Sie sollten die Ukraine schützen, das wäre ihre Pflicht nach dem Abkommen. Ich glaube aber, zumindest der Himmel über der Ukraine sollte geschlossen werden.

 

Auch Waffen fehlen in der Ukraine sagten Sie in einem Interview …

Ein weiterer Punkt, ja. Es fehlen sogar kugelsichere Westen an der Front; teilweise sogar einfachste Hauben. Freunde von mir – Umweltschützer, Fotografen, Dichter – stehen an der Front oder in lokaler Verteidigung, manche nur mangelhaft geschützt. Zwar hilft der Westen, aber es kann noch mehr passieren, etwa das komplette Embargo von Öl und Erdgas. Wir müssen Putin zwingen, die Truppen zurückzuziehen.

 

Ein Satz von Ihnen aus einem Zeitungsartikel blieb mir im Gedächtnis: „Es war noch nie so klar, was gut und was böse ist.“ Beschreiben Sie bitte das Gute und das Böse.

Für diesen bösen Krieg gibt es keinen Grund. Er bedeutet reinen Machterhalt für Putin. Ein Mann, der im Namen des Antifaschismus ein friedliches Land angreift, die Zivilbevölkerung beschießt und dabei Kinder sterben, ist für mich das Böse. Weil er die Existenz eines freien Landes angreift, das Leben an sich.

Das Gute sehe ich in den ukrainischen Menschen. Hierbei ist wichtig: Es geht nicht um meine persönliche Ideologie; die Menschen in der Ukra­ine möchten selbst bestimmen, wie sie leben sollen.

Putin beschießt nun Geburtshäuser, Wohnhäuser oder schickt Raketen in historische Orte. Das bedeutet für mich Missbrauch all der Toten des Zweiten Weltkrieges; jener Menschen, die uns unser Leben geschenkt haben. Viele haben ihr Leben gelassen, um den Nachkommen Frieden zu schenken. Putin hat quasi alle Werte der humanistischen Kultur missbraucht.

 

Wie sieht ein Tag bei Ihnen aktuell aus? Mit welchen Gedanken stehen Sie morgens auf, wie entstehen Ihre Hilfsaufgaben und was können andere tun?

Viele Menschen kommen auf mich zu und fragen mich nach Dingen. Das können Nachtsichtgeräte sein, Netzwerkverbindungen, Transporte für Flüchtlinge. Manche fragen mich etwa, ob ich jemanden im Auswärtigen Amt kenne, aber ich kenne keinen. Manchmal komme ich mir vor wie in einem verrückten Film – wenn der nur nicht so tragisch wäre … In meinem erweiterten Freundeskreis sind Menschen schon gefallen.

Helfen ist dabei Teil unserer Demokratie. Das ist nicht schwierig heutzutage, es gibt viele (soziale) Netzwerke. In allen großen Städten gibt es Bahnhöfe, wo Unterstützung gebraucht wird, Rathäuser mit Informationen über Geflüchtete. Manchmal muss man nur eine Familie von einem Ort zum anderen bringen oder jemanden umarmen. Viel hängt davon ab, welche Sprachen man spricht.

Klar, Demokratie bedeutet auch Stress. Doch jegliche Art von Aktivität ist jetzt wichtig. Ich kenne viele Künstler, die mich nach Aufgaben fragen oder Zimmer anbieten. Ich selbst kann all diese nicht vermitteln, aber es gibt viele Portale – dort kann man Aufgaben finden. Und bitte: Wir sollten keinen Hass gegen Menschen hegen, die russisch sprechen.

 

Weil auch viele Ukrainer russisch sprechen …

Richtig. Diese Menschen sind nicht Putin; sie haben sich nicht für den Krieg entschieden. Ich habe Menschen am Berliner Bahnhof getroffen, die russisch sprechen, weil sie aus dem Osten der Ukraine kommen. Es muss egal sein, welche Sprache die Menschen sprechen. Sie alle suchen Schutz und Hilfe. Auch Menschen aus Russland können wir zeigen, was gerade für eine Tragödie passiert und dass es Chancen gibt, Menschen zu helfen.

 

Sie haben in der Vergangenheit auch für verschiedene russische Medien geschrieben … das heißt, einen Bruch zu Russland empfinden Sie nicht?

Doch, es gibt einen Bruch. Ich habe, wie viele, gehofft, dass mehr Menschen in Russland auf die Straße gehen, auch wenn es gefährlich ist.
Dass neue Formen von Protest gefunden werden. Ich warte aber wohl auf ein Wunder.

 

Haben Sie Situationen erlebt, in denen es Angriffe auf scheinbar russische Menschen gab?

Nicht direkt, nein. Ich habe aber einige Geschichten von provokanten Kommentaren gehört. Manche hören eine slawische Sprache und verbinden sie gleich mit Russland. Ich glaube, dass Aufklärungsarbeit hier unerlässlich ist, auch in der Schule. Es geht nicht um „Hass gegen Russen“. Es gibt viel Propaganda, aber es gibt auch nicht propagierende Menschen oder sogar bereits früher vor Putin geflüchtete. Diese Menschen können nichts für den Krieg.

 

Was können wir tun, um die aktuellen Schreckensszenarien zu durchbrechen?

Hilfe leisten und hoffen, dass der Krieg sich nicht weiter ausbreitet. Was ich am Berliner Bahnhof gesehen habe: Viele der geflüchteten Menschen waren noch nie im Ausland. Sie kommen teilweise mit nur einem Rucksack und Kleidung aus den 1960er Jahren. Wir brauchen jetzt noch viel Ausdauer, auch hier. Ich hoffe, dass all das bald vorbei ist und viele Ukrainerinnen und Ukrainer wieder zurück nach Hause können. Denn das wünschen sie sich. Und dafür wünsche ich ihnen und uns Kraft.

 

Abschließend – was möchten Sie noch sagen?

Von der Hilfsbereitschaft in Europa bin ich überwältigt. Viele Menschen, auch viele Politiker, nehmen sich den Krieg zu Herzen und geben sich Mühe. Die Geschehnisse werfen aktuell Gedanken zum Zweiten Weltkrieg auf. Und leider funktionieren parlamentarische Methoden nicht mehr. Demokratie muss sich mit Waffen schützen und die Ukraine schützt nun auch Europa. Wir müssen den Himmel über der Ukraine schließen, mit Waffen helfen, uns für das totale Embargo einsetzen. Wenn die Ukraine dem standhält, ist der Frieden auch hier gesichert. Ich glaube, jetzt ist die Stunde, zu spüren, was Frieden und Menschlichkeit wirklich bedeuten. Das ist das, was jetzt wirklich auf dem Prüfstand steht.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.

Katja Petrowskaja & Sandra Winzer
Katja Petrowskaja ist Ukrainerin, deutsche Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin. Sie ist in Kiew aufgewachsen und lebt seit 1999 in Deutschland. Sie arbeitet unter anderem als Kolumnistin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.
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