Eine doppelte Aufgabe

Dankesrede nach der Verleihung des Kulturgroschen 2016 durch den Deutschen Kulturrat

„Niemand kann verlangen, dass unser Land sich ändert“ (Viktor Orban). – Das ist ein Satz der Angst, von der ich vermute, dass viele Menschen auch in unserem Land sie teilen. Es ist aber auch ein fataler Satz. Denn wir wissen doch: Nur offene, sich verändernde Gesellschaften sind produktiv und haben Zukunft! Das ist doch auch die Erfahrung von 1989: Geschlossene, eingesperrte Gesellschaften bedeuten Stillstand, sind nicht überlebensfähig, müssen überwunden werden!

 

Die Veränderungen, die wir erleben, machen den Kulturbegriff in der Tradition von Herder, die Fiktion einer homogenen Nationalkultur endgültig obsolet. Aber ist deshalb Kultur nur noch vorstellbar als Interkultur? Und haben wir die Tendenz zur „Kreolisierung“, zum „kulturellen McWorld“, zum „Kulturplasma“, also zum kulturellen Einheitsstrom – dies alles nicht nur durch Migrationsbewegungen, sondern mehr noch durch ökonomische Macht befördert – nicht nur zu konstatieren, sondern gar zu bejubeln? Die Ängste allerdings genau davor, vor Nivellierung, vor Ununterscheidbarkeit, vor Identitätszerstörung, die Abwehr all dessen, der Kampf dagegen machen einen wesentlichen Teil der gegenwärtigen kulturellen Globalisierungskonflikte aus, von denen die emotionalen Auseinandersetzungen in Deutschland ein Widerhall sind.

 

Offensichtlich erscheinen in Zeiten von Migrationen und von gewalttätigen Auseinandersetzungen gerade kulturelle Identitäten besonders bedroht. Nationale Identitäten geraten in Bewegung, aber verschwinden sie deshalb? Sie zu schützen wird ein verbreitetes und heftiges Bedürfnis, global und sogar im eigenen Land. Und gerade Kultur ist der bevorzugte Ort, an dem man sich der eigenen Identität besonders streitig zu vergewissern sucht.

 

„Unser kultureller wie auch unser materieller Reichtum heute gründet wesentlich auf der Zuwanderung von Menschen und Ideen in den vergangenen Jahrhunderten.“

 

Dies als „Kulturalisierung“ ökonomischer und sozialer Gegensätze zu kritisieren und abzuwehren, halte ich für unangemessen, genauso wie „Interkultur“ als einer Art neuer substanzartiger Homogenität zu verfechten. Vielmehr sollte es um folgendes gehen:

  •  um die Unterscheidung zwischen legitimer kultureller Selbstbehauptung einerseits und fundamentalistischer Politisierung kultureller Identität andererseits;
  •  um kulturellen Dialog als Begegnungs- und Verständigungsprozess zwischen Verschiedenen (denn Dialog setzt verschiedene Identitäten voraus);
  •  um die Ausbildung kultureller Intelligenz, also um die Fähigkeit zum Verständnis von Denkmustern und Geschichtsbildern, von Narrativen, Ängsten und Hoffnungen der Anderen, der Fremden – und diese Fähigkeit ist nicht zu haben ohne ein Quantum an Distanz gegenüber der eigenen und kollektiven Identität.

 

 

Deutschland hat in Europa nicht nur wirtschaftliche und politische Macht. Unser Land ist auch eine kulturelle Macht durchaus besonderer Art, wie ein Blick in die Geschichte zeigt: In den guten und glücklichen Phasen der deutschen Geschichte hat unsere Kultur eine besondere Integrationskraft bewiesen – und in den schlechten Phasen unserer Geschichte war das Land mit Abgrenzung und Ausgrenzung befasst.

 

In der Mitte des Kontinents hat Deutschland in immer neuen Anstrengungen und geglückten Symbiosen Einflüsse aus West und Ost, Süd und Nord aufgenommen und etwas Eigenes daraus entwickelt, in gewiss widersprüchlichen und unterschiedlich langwierigen Prozessen, die nicht verordnet oder kommandiert werden können und müssen. Das macht nach meiner Überzeugung die besondere Leistungsfähigkeit der deutschen Kultur aus. Diese Geschichte und Tradition der kulturellen Integration gilt es fortzuschreiben!

 

Unser kultureller wie auch unser materieller Reichtum heute gründet wesentlich auf der Zuwanderung von Menschen und Ideen in den vergangenen Jahrhunderten. Was und wer fremd war, blieb es nicht. Das Fremde und die Fremden wurden deutsch, sie veränderten sich und die Deutschen mit ihnen. Integration also lohnt sich und sie ist erreichbar, wie beides unsere deutsche Geschichte beweist. Sie zeigt auch: Wer seiner selbst nicht sicher ist, reagiert mit Abwehr und Ausgrenzung, um seine labile Identität zu stabilisieren. Wer aber seiner selbst sicher ist, dem ist Offenheit und Angstfreiheit möglich. Wir sollten mehr kulturelles Selbstbewusstsein wagen!

 

Mit den Worten von Daniel Barenboim: „Ich glaube, es ist wichtig, den Ankommenden die hiesige Kultur zu geben. Die Deutschen müssen überwinden, sich andauernd wegen ihrer Kultur und Sprache schlecht zu fühlen … Sie haben eine grandiose Kultur. Die Flüchtlinge, die herkommen, sollen das lernen.“

Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse ist Bundestagspräsident a. D., Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.
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