Eine doppelte Aufgabe

Dankesrede nach der Verleihung des Kulturgroschen 2016 durch den Deutschen Kulturrat

Und wir könnten dies durchaus mit gelassenem Selbstbewusstsein tun. Schließlich kommen die Flüchtlinge ausdrücklich nach Deutschland, wollen unbedingt zu uns – wegen unseres wirtschaftlichen Erfolgs und unseres Wohlstands, gewiss. Aber doch auch wegen unseres Rechtsstaates, unserer Demokratie, unserer politischen Stabilität, die Schutz und Sicherheit und Zukunft verheißen.

 

Damit Integration gelingt, stellen sich über die unmittelbaren Aufgaben – Erwerb der deutschen Sprache, Bildung und berufliche Qualifikation, Arbeitsplätze und Wohnungen – hinaus weitere Fragen, die wir zu beantworten haben. Das sind Fragen nach unserem kulturellen Selbst: Wer sind wir Deutsche, was ist das Eigene? Was sind unsere Gemeinsamkeiten, die den Zusammenhalt einer vielfältiger, widersprüchlicher und konfliktreicher werdenden Gesellschaft ermöglichen und sichern? Wie schützen wir uns vor Parallelgesellschaften und religiösem Fanatismus? Wie begegnen wir Ängsten und Vorurteilen und Entheimatungsbefürchtungen?

 

Gerade in Zeiten heftiger Umbrüche, beschleunigter technisch-wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, sozialer und eben ethnischer Veränderungen ist das individuelle und kollektive Bedürfnis nach Vergewisserung und Verständigung, nach Identität besonders groß. Und dieses Bedürfnis gilt sowohl für die zu uns Kommenden, als auch für die Einheimischen! Und damit, so meine ich, sind wir wirklich im Zentrum der Kultur.

 

„Wer nach Deutschland kommt, der kommt in ein geschichtlich geprägtes Land, der kommt (…) in eine Erinnerungsgemeinschaft.“

 

Als je konkrete, je bestimmte, je besondere Kultur ist diese aber nicht nur ein Modus, ein Raum von Verständigung, sondern ein immer geschichtlich geprägtes Ensemble von Lebens-Stilen und Lebens-Praktiken, von Überlieferungen, Erinnerungen, Erfahrungen, von Einstellungen und Überzeugungen, von ästhetischen Formen und künstlerischen Gestalten. Als solche prägt Kultur mehr als andere Teilsysteme der Gesellschaft die – relativ stabile – Identität einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Nation. Gilt dies nicht mehr in globalisierter Welt? Darf dies nicht mehr gelten in pluralistischer migrantischer Gesellschaft? Die aber doch gerade das Bedürfnis nach Identität verstärken – und dessen Befriedigung zugleich erschweren. Von Hölderlin stammt der Satz: „Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde.“

 

Aber was ist dieses Eigene? Was ist unser kulturelles Selbst? Dürfen, ja müssen die Deutschen darüber reden und, ja, auch streiten? Oder ist dies schon „kultureller Protektionismus“ (Simone Peter)? „Mit dem Hinweis auf Kultur fängt die ganze Misere an“, meint Armin Nassehi: „Was also ist das Deutsche? Hier zu leben. Mehr sollte man darüber nicht sagen müssen.“ Aber vielleicht dürfen, hoffe ich!

 

Die islamistischen Terroristen nämlich nehmen die westliche Kultur, den westlichen Lebensstil so ernst, wie der Westen vielleicht längst nicht mehr, so ernst, dass sie ihn bekämpfen. Aber das von ihnen Bekämpfte kann doch nicht bloß der müde oder trotzige Hedonismus sein, der sich nach den Pariser Mordtaten in den Aufrufen, nun erst recht auf Partys zu gehen, ausgedrückt hat. Nichts gegen Spaßkultur, aber sie allein kann ja nicht gemeint sein, wenn z. B. der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi zu Recht sagt: „Die wollen Terror, aber wir antworten mit Kultur, die stärker ist als Ignoranz.“

 

Wer nach Deutschland kommt, der kommt in ein geschichtlich geprägtes Land, der kommt – und das ist eine wesentliche Dimension von Kultur – in eine Erinnerungsgemeinschaft.

 

Ich zitiere den Bundespräsidenten Joachim Gauck: „Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben.“ So hat er es Anfang vorigen Jahres formuliert. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Gauck spricht hier von einer kulturellen Erbschaft, die nicht auszuschlagen ist.

 

Integration nach Deutschland hinein enthält diese historisch-kulturelle Zumutung für die zu uns Kommenden, auch wenn und gerade weil sie aus muslimischen Ländern kommen.

 

Ich hoffe sehr, dass darüber weitgehende Einigkeit besteht. Aber wir sollten auch wissen, dass die uns in Deutschland vertraute Erinnerungskultur durch die Veränderungen, die der Begriff Einwanderungsgesellschaft meint, auf den Prüfstand gestellt ist. Was taugt von den Traditionen, Institutionen, Methoden, Ritualen für die Zukunft des Gedenkens in einer Einwanderungsgesellschaft? Die Antworten darauf werden wir nur gemeinsam mit den zu uns Kommenden muslimischen Glaubens und arabischer Kulturprägung finden. Wir sollten sie dazu ausdrücklich einladen. Zu der notwendigen Selbstverständigung darüber, was das Eigene ist, was wir in diesem Land den zu uns Kommenden anzubieten haben, wozu wir sie einladen, muss die Antwort auf die Frage gehören, welchen (nicht nur historischen) Rang und welche Gegenwärtigkeit die christlich-jüdische Prägung unserer Kultur – die sie in Widerspruch und Gemeinsamkeit mit dem Prozess der Aufklärung erfahren hat – beanspruchen darf und soll. Diese Frage erzeugt, wenn ich es richtig beobachte, in der Öffentlichkeit nicht selten Reaktionen zwischen Irritation und Unsicherheit, zwischen Trotz und Verschämtheit. Als sei schon der Hinweis etwas Unziemliches und Integrationsfeindliches, dass unsere Kultur (nicht allein, aber doch wesentlich) christlich geprägt ist. Man dient aber der Integration nicht, wenn man sich selbst verleugnet und nur noch „Interkultur“ für zeitgemäß und legitim hält.

Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse ist Bundestagspräsident a. D., Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.
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