Damenoberbekleidung ist politisch

Oder wer sollte unter seiner Burka hervorkommen

Es findet in dem noch jungen 21. Jahrhundert zum zweiten Mal eine Debatte darüber statt, wer zu unserer Gesellschaft dazu gehört und wer nicht und was diejenigen, die dazugehören wollen, tun müssen. Anfang der 2000er Jahre in der ersten rot-grünen Bundesregierung (1998-2002) hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Zuwanderungskommission eingesetzt und klug mit der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU) als Vorsitzender besetzt. Wichtige Ergebnisse der Zuwanderungskommission waren, dass Zuwanderung als Gewinn für die Gesellschaft angesehen werden sollte, dass Mehrstaatlichkeit ermöglicht, dass Asylverfahren beschleunigt, dass Maßnahmen zur Integration ergriffen werden sollen und anderes mehr.

 

Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Zuwanderungskommission und deren Arbeit fand einerseits eine Diskussion um Leitkultur und vermeintlich deutsche Werte statt. Es wurde bewusst die Angst vor Fremden geschürt, insbesondere vor Menschen muslimischen Glaubens. In diesen Kontext ist auch die sogenannte Kopftuchdebatte einzuordnen. Andererseits entstand ein Bewusstsein, dass die Menschen, die als »Gastarbeiter« nach Deutschland kamen, und deren Kinder und Kindeskinder in Deutschland bleiben werden und Teil der deutschen Gesellschaft sind. Es erwuchsen hieraus gerade auch im Kulturbereich viele neue Initiativen zur Öffnung von Kultureinrichtungen, zu mehr Teilhabe und Partizipation an kultureller Bildung, die nicht nur Kindern und Jugendlichen aus migrantischen Milieus, sondern vielen, aus eher kulturfernen Schichten, zu Gute kamen und kommen. Akademische Debatten um Inter- oder Transkultur entstanden und pädagogische Konzepte wurden weiterentwickelt. Letztlich erschien die Leitkulturdebatte als eine Diskussion der ewig Gestrigen und konnte sich gesellschaftlich nicht durchsetzen. Schon lange waren viele Ausländer längst zu Inländern geworden.

 

„Bekleidungsvorschriften werden kaum einen Beitrag zur Integration leisten können.“

 

Das entscheidende weitere Verdienst der Zuwanderungskommission war, klar auszusprechen und politisch zu verankern, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Dieses bedeutet in einem Land, das über Jahrhunderte Auswanderungsland war, ein radikales Umdenken und neues Verständnis. Deutschland ist wie andere westeuropäische Industrienationen ein Sehnsuchtsort vieler Menschen, die in ihren Heimatländern für sich und möglicherweise auch ihre Familie keine Zukunft sehen. So wie über Jahrhunderte Wirtschaftsflüchtlinge aus Deutschland nach Nord- und Südamerika sowie Australien auswanderten und weder über die erforderlichen Sprachkenntnisse noch sonstige Mittel außer ihrer Arbeitskraft verfügten, so kommen heute Menschen – ganz unabhängig von Bürgerkriegen – aus rein ökonomischen Gründen nach Deutschland. Zusätzlich erreichten im letzten Jahr erstmals seit dem Balkan-Krieg wieder viele, sehr viele Bürgerkriegsflüchtlinge Deutschland. Das sie aufgenommen werden konnten, ist zuallererst dem großen bürgerschaftlichen Engagement so vieler zu verdanken. Nach der Nothilfe im letzten Jahr steht nun die Integration derjenigen an, die dauerhaft in Deutschland bleiben und gegebenenfalls deutsche Staatsbürger werden. Dies geschieht durch Respekt, durch Arbeit, durch Deutschkurse, durch Begegnungen, durch Kultur, durch das Miteinander in Vereinen und Weltoffenheit von beiden, den hier geborenen und den dazugekommen, und vieles andere mehr.

 

Bekleidungsvorschriften werden kaum einen Beitrag zur Integration leisten können. Sie entzünden vielmehr erneut die längst überwunden geglaubte Diskussion um die, die dazugehören und jene, die außen vorstehen. Ja, Damenoberkleidung kann wie eingangs gezeigt wurde, auch ein Zeichen von Emanzipation sein. Emanzipieren kann man sich aber nur selbst, man kann nicht emanzipiert werden. Vielleicht ist es daher erforderlich, dass einige der Vorkämpfer für das Vollverschleierungsverbot unter ihrer Burka hervorkommen und ihren Blick in die Vielfalt der deutschen Gesellschaft werfen. Das hieße Gesicht zeigen und sich für Weltoffenheit stark machen.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 5/16 erschienen.

Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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