Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz - 24. September 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik / Wertedebatte

Damenoberbekleidung ist politisch


Oder wer sollte unter seiner Burka hervorkommen

Kaum ein Thema hat in diesem Sommer für solches Rauschen im Blätterwald gesorgt wie die Damenoberbekleidung, womit einmal mehr bewiesen wird, das Private ist politisch und das gilt auch oder insbesondere für die Bekleidung von Frauen.

 

Blicken wir zurück: Über viele Jahrzehnte war es vor allem die mangelnde Bekleidung von Frauen, die ein „Aufreger“ war. Nach dem ersten Weltkrieg wurden Röcke und Kleider kürzer. Das Ende der Monarchie, die Demokratie war auch eine Befreiung vom Korsett, von langen Röcken und insbesondere bei älteren Frauen von dunklen Kleidern. Und quelle horreur, nicht nur die Kleider wurden kürzer, auch die Haare. Der „Bubikopf“ war ein Zeichen emanzipierter Frauen und manche Dame ginge gar soweit ein Beinkleid, vulgo Hose, zu tragen. In den 1960er Jahren sorgte der „Mini“, der kurze, teilweise auch sehr kurze Rock für Skandale. Der Bikini galt als unkeusch. Während in den 1970er Jahren in der Werbung noch der „Hüfthalter Frauen umbrachte“ und „Zauberkreuz-BHs“ für eine garantiert stramm nach vorne ragende Brust sorgen sollten, hatten Feministinnen sich solcher quälenden Unterwäsche längst entledigt. Die lockere, teilweise wallende Kleidung war auch eine Absage an ein Rollenmodell und stand für Emanzipation, für die berufstätige, ihr Leben in die eigene Hand nehmende Frau. Passend hierzu eine entsprechend pflegeleichte Frisur. Dennoch war es zumindest im ländlichen Raum üblich, dass Mädchen in schwarzem Rock, keusch das Knie bedeckt, und weißer Bluse zur Konfirmation gingen und das Tragen einer Hose als Verstoß gegen Anstand und gute Sitten galt.

 

Die Liste an Beispielen ließe sich noch lange fortsetzen. Und meist waren es konservative Kreise, die die sich verändernde Damenoberbekleidung als Angriff auf bestehende Werte und als Bedrohung ansahen. Sittenverfall ist nur eines der Stichworte, die in diesem Zusammenhang gefallen sind.

 

„Heute ist es die Verhüllung, die insbesondere Konservativen den Schweiß auf die Stirn treibt.“

 

Heute ist es die Verhüllung, die insbesondere Konservativen den Schweiß auf die Stirn treibt. Jene, die noch vor kurzem gegen Quoten für mehr Frauen in Führungsetagen waren, gegen die Betreuung von Kleinkindern in Kindertagesstätten opponierten und für die Betreuung zu Hause, am besten durch die ihre Erwerbskarriere unterbrechende Mutter, stritten, jene sind es nun, die sich als die Speerspitze für die Emanzipation von Frauen verstehen und gegen Burka, Niqab und Burkini zu Felde ziehen. Sie geben vor, für die Befreiung von verschleierten und verhüllten Frauen einzutreten und wollen sie aus ihrem „Gefängnis“ befreien.

 

Ja, schwarz gekleidete Frauen, deren Gesicht durch einen Niqab verhüllt ist, irritieren. Es ist ungewohnt, sie zu sehen. Erst recht, wenn sie auch schwarze Handschuhe tragen und nur manchmal ein Hauch von Haut zu sehen ist – dass diese Verhüllung ausgesprochen sexy sein kann und einige der sich verhüllenden Frauen, sich dessen sehr bewusst sind, sei nur am Rande erwähnt.

 

Und doch, wer offenen Auges durch die bundesrepublikanischen Städte und Gemeinden geht, wird kaum eine Burkaträgerin, jenes vor allem in Afghanistan getragene, zumeist blaue Frauengewand, das den gesamten Körper verhüllt, sehen. Um die Burka geht es also offenbar nicht! Und auch Niqab-Trägerinnen sind zwar häufiger in süddeutschen Großstädten mit exklusiven Geschäften anzutreffen, doch handelt es sich hierbei sehr oft um Saudi-Araberinnen, die exquisit einkaufen. Auch jene werden die Vorkämpfer für Frauenemanzipation weniger im Blick haben. Ein Massenphänomen sind Niquab-Trägerinnen in Deutschland jedenfalls nicht und auch in anderen europäischen Ländern, selbst Frankreich, wo ein Vollverschleierungsverbot besteht, waren auch vorher Frauen, die sich voll verschleiern, die Ausnahme und nicht die Regel.

 

Worum geht es also in dieser, teilweise aufgeheizten Diskussion, um die vermeintlich adäquate Damenoberbekleidung in Deutschland. Es geht, so meinen wir, um eine tiefe Verunsicherung von Teilen der Gesellschaft und es geht um die Lufthoheit insbesondere in konservativen Kreisen. Nur so lässt sich erklären, dass in der „Berliner Erklärung der Innenminister und -senatoren von CDU und CSU zu Sicherheit und Zusammenhalt in Deutschland“ vom 19. August 2016 folgendes zu lesen ist: „Vollverschleierung beeinträchtigt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie steht mit ihrer frauenverachtenden Symbolik im Widerspruch zur Gleichberechtigung und Würde der Frau. Sie leistet Parallelgesellschaften Vorschub und ist damit ein Integrationshemmnis. Die Vollverschleierung widerspricht unserem gesellschaftlichen Konsens. Wir lehnen sie daher ab und fordern, dass alle Menschen ihr Gesicht zeigen.“

 

Hieraus werden erforderliche rechtliche Konsequenzen abgeleitet, wie ein Vollverschleierungsverbot im öffentlichen Dienst, in Kindertageseinrichtungen, Schulen und Hochschulen, vor Gericht, bei Passkontrollen, bei Verkehrskontrollen, im Meldeamt, im Standesamt usw., bei Demonstrationen und im Straßenverkehr. Nach dieser Aufzählung drängt sich der Eindruck auf, dass es vielleicht besser wäre, gleich gesetzlich festzulegen, in welchen Fällen eine Vollverschleierung erlaubt wäre.


Es findet in dem noch jungen 21. Jahrhundert zum zweiten Mal eine Debatte darüber statt, wer zu unserer Gesellschaft dazu gehört und wer nicht und was diejenigen, die dazugehören wollen, tun müssen. Anfang der 2000er Jahre in der ersten rot-grünen Bundesregierung (1998-2002) hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Zuwanderungskommission eingesetzt und klug mit der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU) als Vorsitzender besetzt. Wichtige Ergebnisse der Zuwanderungskommission waren, dass Zuwanderung als Gewinn für die Gesellschaft angesehen werden sollte, dass Mehrstaatlichkeit ermöglicht, dass Asylverfahren beschleunigt, dass Maßnahmen zur Integration ergriffen werden sollen und anderes mehr.

 

Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Zuwanderungskommission und deren Arbeit fand einerseits eine Diskussion um Leitkultur und vermeintlich deutsche Werte statt. Es wurde bewusst die Angst vor Fremden geschürt, insbesondere vor Menschen muslimischen Glaubens. In diesen Kontext ist auch die sogenannte Kopftuchdebatte einzuordnen. Andererseits entstand ein Bewusstsein, dass die Menschen, die als »Gastarbeiter« nach Deutschland kamen, und deren Kinder und Kindeskinder in Deutschland bleiben werden und Teil der deutschen Gesellschaft sind. Es erwuchsen hieraus gerade auch im Kulturbereich viele neue Initiativen zur Öffnung von Kultureinrichtungen, zu mehr Teilhabe und Partizipation an kultureller Bildung, die nicht nur Kindern und Jugendlichen aus migrantischen Milieus, sondern vielen, aus eher kulturfernen Schichten, zu Gute kamen und kommen. Akademische Debatten um Inter- oder Transkultur entstanden und pädagogische Konzepte wurden weiterentwickelt. Letztlich erschien die Leitkulturdebatte als eine Diskussion der ewig Gestrigen und konnte sich gesellschaftlich nicht durchsetzen. Schon lange waren viele Ausländer längst zu Inländern geworden.

 

„Bekleidungsvorschriften werden kaum einen Beitrag zur Integration leisten können.“

 

Das entscheidende weitere Verdienst der Zuwanderungskommission war, klar auszusprechen und politisch zu verankern, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Dieses bedeutet in einem Land, das über Jahrhunderte Auswanderungsland war, ein radikales Umdenken und neues Verständnis. Deutschland ist wie andere westeuropäische Industrienationen ein Sehnsuchtsort vieler Menschen, die in ihren Heimatländern für sich und möglicherweise auch ihre Familie keine Zukunft sehen. So wie über Jahrhunderte Wirtschaftsflüchtlinge aus Deutschland nach Nord- und Südamerika sowie Australien auswanderten und weder über die erforderlichen Sprachkenntnisse noch sonstige Mittel außer ihrer Arbeitskraft verfügten, so kommen heute Menschen – ganz unabhängig von Bürgerkriegen – aus rein ökonomischen Gründen nach Deutschland. Zusätzlich erreichten im letzten Jahr erstmals seit dem Balkan-Krieg wieder viele, sehr viele Bürgerkriegsflüchtlinge Deutschland. Das sie aufgenommen werden konnten, ist zuallererst dem großen bürgerschaftlichen Engagement so vieler zu verdanken. Nach der Nothilfe im letzten Jahr steht nun die Integration derjenigen an, die dauerhaft in Deutschland bleiben und gegebenenfalls deutsche Staatsbürger werden. Dies geschieht durch Respekt, durch Arbeit, durch Deutschkurse, durch Begegnungen, durch Kultur, durch das Miteinander in Vereinen und Weltoffenheit von beiden, den hier geborenen und den dazugekommen, und vieles andere mehr.

 

Bekleidungsvorschriften werden kaum einen Beitrag zur Integration leisten können. Sie entzünden vielmehr erneut die längst überwunden geglaubte Diskussion um die, die dazugehören und jene, die außen vorstehen. Ja, Damenoberkleidung kann wie eingangs gezeigt wurde, auch ein Zeichen von Emanzipation sein. Emanzipieren kann man sich aber nur selbst, man kann nicht emanzipiert werden. Vielleicht ist es daher erforderlich, dass einige der Vorkämpfer für das Vollverschleierungsverbot unter ihrer Burka hervorkommen und ihren Blick in die Vielfalt der deutschen Gesellschaft werfen. Das hieße Gesicht zeigen und sich für Weltoffenheit stark machen.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 5/16 erschienen.


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