Die politische Debatte zum Wohnen in Deutschland ist zahlendominiert: Bedarfe, Leerstände, Baukosten, Mietkosten, Nebenkosten, Wohnfläche, Renditen. Die Maßeinheiten sind Stückzahl, Euro und Quadratmeter. Wer fachlicher einsteigt, spricht über Planungsrecht, Bauordnungsrecht, Boden- oder Mietrecht. Wohnqualitäten, Gestaltung und Baukultur oder schlicht die Frage nach einem gelingenden Zusammenleben im Wohnquartier stehen nicht oben auf der Agenda.
Räume prägen Menschen – das heißt aufs Wohnen übertragen: Wohnungen prägen Menschen. Aber nicht nur die abgeschlossene Wohnung selbst, sondern deren Integration in die Nachbarschaft, die Qualität des Wohnumfeldes und die sozialräumliche und infrastrukturelle Einbindung sind ausschlaggebend. Mit allen Sinnen nehmen wir von Kindheit an unsere gebaute Umwelt wahr, das sind Farben, Formen, Materialien, Licht und Gerüche, und bilden daran die Maßstäbe dafür, wie und wo wir uns in der Welt zu Hause fühlen. Der Raumgestaltung anhand dieser grundlegenden Qualitäten stehen Gesetze, Regularien und Vorschriften im Wohnungsbau gegenüber, die einen Standard bestimmen, dessen Ausmaße nicht nur bei Bauschaffenden zunehmend in Frage gestellt werden.
Inzwischen wundern sich viele, dass als Residual der Zahlendebatte mit unterschiedlichen Maßeinheiten landauf, landab »Wohnkisten« entstehen, die nicht mal denen richtig gefallen, die sie geplant und gebaut haben: »Dazu müssen Sie wissen, wir mussten KfW Standard xy beachten, Zwangsbelüftung, und aus Kostengründen konnten wir leider nur die Schlichtfassade bauen.« Wenn wir Wohnungen neu bauen, für die wir uns heute schon entschuldigen, ist das kein gutes Vorzeichen für ihre hundertjährige Nutzungsdauer.
Wir müssen also vor allem fragen: Wie wollen wir leben? Was das Wohnen betrifft, gibt es dafür aus meiner Sicht drei Antworten.
Die erste Antwort ist eine konsequente Bestandsorientierung. Das Umbauen des Bestandes an Gebäuden und Bauwerken ist die große Aufgabe der Zukunft. Es bietet strukturell und typologisch viele Möglichkeiten, die aktuell noch gar nicht ausgeschöpft werden.
Neben den ökologischen Argumenten für den Bestandsumbau gibt es zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass der Umbau auch ökonomischer ist als der Ersatzneubau, wenn wir mit Augenmaß vorgehen und nicht Tabula Rasa machen. Und er leuchtet der Bevölkerung als bessere Alternative zum Neubau ein. Aus der Umfrage zum Baukulturbericht 2022/23 »Neue Umbaukultur« wissen wir, dass die Bevölkerung den Umbau im Gegensatz zum Neubau als klimafreundlicher (65 Prozent), individueller (75 Prozent) und besser in sein Umfeld integrierbar (79 Prozent) empfindet. Das Gestaltungsargument zählt bei sogar noch mehr Menschen als die guten Gründe der Klimabilanz. So antworten in der gleichen Umfrage 93 Prozent der Befragten auf die Frage, was ihnen bei einem Bauprojekt in ihrer Nachbarschaft wichtig ist: »ein optisch ansprechendes Ergebnis«.
Dieses individuelle, aus dem Bestand und dessen Kontext erwachsene Gestaltungspotenzial beim Wohnungsbau durch Um- und Weiterbau zu heben, birgt vermutlich die größten Chancen für die laufende und bevorstehende bauliche Transformation. Nicht Konformität und Langeweile einer monotonen »Klötzchenarchitektur« sind gefragt, sondern die Nonkonformität, die individuell aus der positiven gestalterischen Reibung mit dem Bestand, der »goldenen Energie«, entsteht – durch Umbau, Weiterbauen, Aufstocken und Anbauen. Das beeinflusst auch die Wohnkultur als Zusammenspiel von Architektur, Design, Handwerk und als Spiegel persönlicher Vorlieben und Werte.
In den Kommunen ist bisher beim Wohnungsbau noch immer kein eindeutiger Vorrang für die Innenentwicklung und den Umbau zu erkennen. Um dem vermuteten Wählerwillen nach der Bereitstellung neuen Baulandes gerecht zu werden, weisen laut Umfragen zum Baukulturbericht 2022/23 immer noch 72 Prozent der Gemeinden neue Baugebiete aus und leisten damit der anhaltenden Flächeninanspruchnahme Vorschub und einer Wohnform, die schon längst nicht mehr zukunftsfähig ist.
Die Nutzer sind da teilweise weiter als die Politik. In einer Bevölkerungsumfrage der Bundesstiftung Baukultur sprechen sich 88 Prozent der Befragten dafür aus, dass neue Wohnungen durch den Umbau von nicht genutzten Büroflächen geschaffen werden sollten, 57 Prozent in bestehenden Mehrfamilienhausgebieten und sogar 38 Prozent durch den Umbau bestehender Einfamilienhausgebiete. Nur noch acht Prozent sehen die Lösung für den Bau neuer Wohnungen in neuen Einfamilienhausgebieten.
Stellt sich also die Frage, wie wir den Umbau des Bestandes beherzt und konsequent angehen, und wo das Potenzial für eine positive Transformation gesellschaftlicher Rahmenbedingungen steckt. Ein gutes Beispiel ist hier der von der Bevölkerung präferierte Büroflächenumbau zu Wohnungen. Nicht nur, dass die üblichen Gebäudetiefen und Deckenhöhen einen Umbau relativ leicht und kostengünstig möglich machen, sondern, dass hiermit tatsächlich strukturelle Neuerungen machbar sind: Dienstleistungsstandorte, allemal in den Kerngebieten unserer Innenstädte, werden plötzlich gemischter, lebendiger und attraktiver. Und ein drei Meter hoher ehemaliger Büroraum als Wohnraum mit möglichst hoch angesetzten Fenstern für die Belichtung auch tiefer Räume schafft großzügige Raumeindrücke mit Loftcharakter, selbst auf in kleinere Einheiten teilbarer Fläche. Ein gutes strukturelles Mittel zur typologischen und gestalterischen Anpassung von Büros zu Wohngebäuden sind vorgestellte Loggien, Balkone oder Laubengänge. Hier gewinnt der Baukörper an Plastizität, auf den Menschen bezogene Maßstäblichkeit und Wohnlichkeit. Dezente Farbkonzepte und vor allen Dingen eine landschaftsplanerische Integration in das Umfeld schaffen den Systemwechsel vom Arbeits- zum Lebensort.
Die zweite Antwort, insbesondere für den Neubau oder die Transformation von Stadtquartieren, ist der Weg in den sozialreformerischen Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit der 1920er Jahre, der auch heute viele passende Antworten bietet. Das ist ein Städtebau, der den Menschen (und nicht das Auto) in den Mittelpunkt stellt, schlichte, aber im Detail hochwertig gestaltete Baukörper, einfache Konstruktionsprinzipien, flexible Grundrisse und nachbarschaftsunterstützende Gemeinschaftsanlagen, vom Wäscheboden bis zum Eckladen. Um einen Eckladen zu bauen, braucht es eine Ecke, was vielleicht eine Binsenweisheit ist, aber auch auf den heute häufig notleidenden Städtebau unserer Einzelhaus-Quartiere hinweist. Auf einer Parzelle in einer Hausreihe kann keine »Klötzchenarchitektur« entstehen, sondern allenfalls ein vielgestaltiges Quartier, mit Ausreißern nach unten, aber eben auch nach oben.
Ein gutes Beispiel für einen Wohnungsneubau der Zukunft, der vielen dieser Anforderungen gerecht wird, ist der diesjährige Preisträger des Deutschen Architekturpreises, der Wohnhof Franklin der Architekten Sauerbruch und Hutton in Mannheim. Hier werden nicht nur 90 Wohnungen für ein integriertes Cluster-Wohnkonzept in dreigeschossiger Bauweise geschaffen, sondern auch Wohnfolgeeinrichtungen mitgebaut wie ein Gemeinschaftshaus, ein breiter Innenhoflaubengang als Begegnungsort und ein grüner Innenhof, der von den vier Hofecken aus über Freitreppen zugänglich ist. Vorgefertigte Holzelemente unterstützen die Prägnanz und hohe Detailqualität der Architektur, und das farblich ausdifferenzierte und damit für die Wohnungen Individualität schaffende Laubenganggeviert unterstützt Alltagserlebnisse, Kommunikation und Nachbarschaft.
Es geht beim Wohnen immer um Angemessenheit, Würde und Schönheit. Es geht um das, was inzwischen immer mehr Menschen mit suffizientem Leben bezeichnen: Soviel wie nötig statt soviel wie möglich. Ein kombinierter Wohn- und Küchenbereich spart Fläche und unterstützt das Familienleben. Die Stoßlüftung über das Fenster ist gesünder und angenehmer fürs Raumklima als die Zwangslüftung im Passivhaus. Und eine kleine Wohnung mit Balkon ist besser als eine große Wohnung ohne Balkon. Eine gute Beurteilungshilfe, wie wir ein Wohnungsbauvorhaben baukulturell verantwortlich entwickeln und planen, ist das Davos Quality System DQS. Unter acht Kriterien eines Selbstchecks finden sich auch Kontextualität, Genius Loci, Vielfalt und Schönheit. Schönheit als messbares Kriterium, ja, weil es hier um Angemessenheit geht, die beim DQS über Skalenfragen ablesbar wird.
Im Ergebnis können baukulturell hochwertige Neubauwohnungen aussehen wie die Forschungshäuser des Architekten Florian Nagler in Bad Aibling. Statt immer mehr Dämmung, Sensorik und Steuerung zu verwenden, untersucht Nagler mit Thomas Auer, Anne Niemann u. a., wie Architektur selbst – durch Material, Proportion und Konstruktion – für gutes Raumklima, Energieeffizienz und Komfort sorgen kann. Das zeigt sich auch in schlichten Grundrissen mit gleichgroßen, flexibel nutzbaren Räumen. Die Forschungshäuser sind ein Plädoyer für eine Rückbesinnung auf das Wesentliche im Bauen und finden die Lösung im Umkehrschluss über gut gestaltete Architektur.
Daran angelehnt sind inzwischen einige Bundesländer dabei, den Gebäudetyp e (e für einfaches, erleichtertes und experimentelles Bauen) in die Landesbauordnungen zu integrieren. Wenn es uns gelingt, Wohnungen einfacher neu- oder umzubauen, können wir bis hin zur Eigeninitiative und Eigenleistung das Bauen wieder zum Element von aktivem Zusammenleben machen.
Die dritte Antwort ist daher der von Initiativen und Pionieren des Wohnens beschrittene Weg gemeinschaftlicher, Sozial- und Generationsgrenzen überschreitender Wohnprojekte. Beispiele wie die neugegründete Münchner Wohnungsgenossenschaft wagnis oder der Zukunftsort Prädikow in Brandenburg, wo eine alte Hofanlage gemeinsam zum neuen Wohn- und Lebensort umgebaut wird, schaffen Referenzen, die für die Antwort auf die Frage der Zukunft des Wohnens vielleicht wirksamer sind als alle Bauträgerkataloge Deutschlands zusammen. Ihr Vorzeigecharakter ist Motor der Transformation, und er hilft da, wo die geltenden Rahmenbedingungen heute zu unbefriedigender Gestaltung führen.
Das Plädoyer für eine neue Wohnkultur des Zusammenlebens, des einfacheren Um- und Neubauens mag für diejenigen 500.000 Menschen in Deutschland zynisch klingen, die gar keine Wohnung haben, obdachlos sind. Und es werden ständig mehr. Deshalb hier noch ein Hinweis auf einen vierten Weg, Wohnen neu zu denken. Unsere mechanische Lösung der Containerunterbringung jedenfalls ist eine unzureichende Antwort. Wohnen ist nach der UN ein Grundrecht. Jeder Mensch hat ein Recht auf angemessenen Wohnraum. Dabei geht es um ein Dach über dem Kopf, aber eben nicht nur. Der neue Übernachtungsschutz in München bietet hier eine überzeugende Alternative zur Straße und schafft mit menschlicher Architektur der Architekten Hild und K einen würdigen Ort. Nelly Sachs würde sagen: eine »Nachtherberge für die Wegwunden des Tages«. Wenn wir von dieser elementaren Erfahrung ausgehen, wird klar, dass Wohnen sich nicht in Zahlen messen lässt, sondern nur in Lebensqualität.
