Von Lastern und Kuratorenprosa

Der Überschwang des Dagegen-Seins

Ein Laster muss jeder haben, auch als Theologe. Meins bildet die Kehrseite zu meiner sonst so löblichen Kulturbeflissenheit. Regelmäßig besuche ich Ausstellungen von Gegenwartskunst. Leider fällt mir häufig auf, wie schlecht die kuratorischen Texte sind: aufgebauscht und inhaltsleer. Ich habe mir deshalb den lästerlichen Spaß gemacht, eine Sammlung mit verunglückter Kuratorenprosa anzulegen. Hier kommt nun mein jüngstes Sammelstück.

 

Es ist auf Deutsch und Englisch an die Wand des Torbogens plakatiert, der ins KW Institute for Contemporary Art in der Auguststraße führt. Dort ist ja gerade ein Teil der Berliner Biennale zu sehen – mit dem Titel „Antichurch“. Die Ausstellung selbst ist interessant, befremdlich aber ist die Hinführung, die das lateinamerikanische Kuratorenteam geschrieben hat und das nun mitten in Berlin an einer Häuserwand zu lesen ist:

 

„Können wir unseren kollektiven Körper von patriarchalischer Gewalt und der Gefahr, die sie darstellt, befreien? Nach wie vor feiern die Massen den weißen Vater, den Priester und den Staatsmann, der von seiner nationalistischen Kanzel herab predigt. In der gesichtslosen Menge der Anbetenden drängt sich Leib an Leib. Die sexualisierte Politik des Faschismus manifestiert sich im Zusammenspiel mit der ekstatischen, alle Häretiker*innen erfassenden Repression. In ihren zahlreichen Mutationen setzt die Religion des Kolonialkapitalismus den kriminellen Amoklauf gegen die wachsende Mehrheit der Ungläubigen fort. Diese wiederum wenden sich von den alten, blassen Göttern und ihren Fundamentalismen ab, vandalisieren Kathedralen, verkünden, dass auch ihre Statuen stürzen werden. Der Klerus insistiert, der heidnische Feind sei mächtig, unsichtbar und omnipräsent, und glücklicherweise stimmt das. In Konfrontation zu den neuen Theokrat*innen, ihren Anhänger*innen und ihrer mörderischen Historie stehen diejenigen, die zurückschlagen, indem sie schlicht ihr Leben leben. Ihre Existenz allein ist eine Übung im Überleben, gegenwärtig im Alltagskampf, der in diesem Augenblick überall auf dem Planeten geführt wird. Schlaflieder, gesungen von den Alten, Rebellionen, gewebt von indigenen Frauen, Kinder, ihren Müttern entrissen, die neue Verwandtschaften finden. Emanzipatorische Kosmologien und Sexualitäten bauen private und kollektive Gegenkirchen, queere und transfeministische Tempel, die sich der Taktik der Angst und des Fanatismus der Autokrat*innen und ihren makabren Prozessionen stellen. Sie sagen: ›Wir sind die Enkel*innen der Hexen, die ihr verbrannt habt‹. Sie vollziehen Rituale feministischer Solidarität. Sie erfinden die matriarchalischen Allianzen der rebellischen Trauer. Sie teilen ihre Verletzlichkeit und ihre Geschichten. Sie sind spirituelle Heiler*innen. Sie sind immer viele, und niemals allein.“

 

Diesem Text begegnet man am besten mit einer kleinen Predigtkritik. Denn eine Predigt ist dies ja, wenn auch eine antichristliche. Sie beginnt mit der Behauptung eines ebenso unbestimmten und aufgeladenen „Wir“. Wer soll das sein: die Künstlerinnen, die Besucher oder alle, die auf der richtigen Seite stehen? Ein Prediger müsste doch erst Gründe für eine gemeinsame Ausrichtung benennen, anstatt die Angesprochenen umstandslos zu vereinnahmen. Dem ominösen „Wir“ entspricht ein ebenso unbestimmtes wie aufgeladenes „Die“. „Die“ – das ist die Einheitsfront des Bösen: Faschismus, Kolonialismus, Kapitalismus, Nationalismus, Fundamentalismus, Sexismus, Christentum. Mithilfe eines scharfen Dualismus von wir/gut und die/böse soll hier eine Gemeinschaft gestiftet hergestellt werden. Das Hauptproblem solchen Predigens ist, dass es im Überschwang des Dagegen-Seins dem immer ähnlicher wird, wogegen es ist. Es gleicht sich dem Feind an, ersetzt den einen Populismus durch einen anderen. Aus der Kirchengeschichte ist dies bekannt: Mitglieder einer verfolgten Minderheit schließen sich unter dem Einfluss apokalyptischer Predigten zu einer sektenartigen Gegenkirche zusammen, die ihre eigenen Aggressionspotenziale besitzt. Hoffnung und Trost schenkt nur das Bewusstsein, zur kleinen Schar der wahrhaft Gerechten zu gehören – wie auch am Ende dieses Textes.

 

Das Anliegen der Ausstellung, auf das emanzipatorische Engagement ausgebeuteter und verzweifelter Menschen im globalen Süden aufmerksam zu machen, kann ich gut nachvollziehen. Nur braucht es dafür einen solch aufgedreht-gegenkirchlichen Text, der für einen deutschen Kontext doch gar keinen Sinn ergibt? Ich jedenfalls hätte die Ausstellung unbefangener betreten, wenn ich am Eingang nicht so angebrüllt worden wäre.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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