Vereinzelt und doch nicht allein

Auch Individualisten brauchen Gemeinschaft

Der Mensch ist ein ambivalentes Wesen. Überleben und entwickeln konnte sich der homo sapiens nur in der Gruppe, im Familienverbund, mit anderen zusammen. Gegen die feindliche Natur, gegen Raubtiere, Krankheiten, Hunger, andere Humanoide. Und doch strebten Menschen von Anfang an danach, sich abzusondern: durch Kleidung, Schmuck, Körperzeichnungen. Sie nahmen Namen an, beanspruchten Eigentum, rangen um ihren Anteil an gemeinsamer Beute.

 

Wir sind demnach beides: Individuen, die sich von allen anderen schon durch eine einzigartige Genmischung unterscheiden, durch Aussehen, Charakter, Persönlichkeitsmerkmale, Lebensgeschichte. Und Gemeinschaftstiere. Wir können oft nicht mit anderen. Aber wir können auch nicht ohne sie. In der Pandemie machen wir alle seit Monaten diese ambivalente Erfahrung: Abstand ist angesagt, Arbeiten und Urlaub daheim. Großveranstaltungen sind bis auf Weiteres abgesagt, Clubs geschlossen, im Konzert und Theater sitzen wir vereinzelt, selbst Feiern im privaten Bereich werden staatlich begrenzt – zu unserem Schutz. Das sollte eigentlich eine Freude für jeden Individualisten sein. Und doch leiden viele darunter, wie die illegalen Partys zeigen.

 

Denn abheben kann man sich von anderen ja nur, wenn man nicht alleine ist. Wenn man zumindest auf Instagram oder Facebook zeigt, was für eine tolle, ungewöhnliche Person man ist. Woher aber kommt dieses bisweilen übersteigerte Verlangen, sich zu individualisieren; das Buhlen um Besonderheit und entsprechende Anerkennung? Warum gelingt es so wenigen, mit sich zufrieden zu sein, mit den Vorzügen und Mängeln, die jede, jeder hat. Und all dem, was uns gerade nicht von anderen unterscheidet und an sie bindet? Sicher hat das mit geschichtlichen Erfahrungen zu tun. Mit dunklen Zeiten, in denen nur der Führer zählte und das Volk dumpfe Verfügungsmasse sein sollte, gleichförmig gemacht durch Uniformen und uniforme Gesinnung. Masse und Macht – darüber haben kluge Geister wie Elias Canetti und Hannah Arendt nachgedacht. Schon in der Antike, überhaupt in der vormodernen Zeit waren die meisten scheinbar bedeutungslose Wesen. Die Geschichte schrieben andere, wenige. Die Aufklärung, die diese Unterschiede aufhob und etablierte, dass in unserer westlichen Kultur heute jede und jeder genauso viel zählt, jedem Individuum gleiche Würde und gleiche Rechte zugesprochen werden, unabhängig von Leistung und persönlichen wie sozialen Merkmalen, gar Reichtum oder Macht, ist deshalb ein gigantischer Fortschritt.

 

Und doch, so scheint mir, geht dabei heute einiges verloren: das Gemeinschaftsgefühl, die Geborgenheit in der Gruppe, selbst einer Masse. Viele möchten sich nicht mehr als Teil von etwas sehen: einer sozialen Klasse, Partei, Gewerkschaft, Kirche, gar einer Nation, schon gar nicht eines Volkes – obwohl das ja nach dem Grundgesetz unser demokratisches Gemeinwesen konstituiert. Was aber dann? Nur noch jede, jeder für sich, als Selbstunternehmer, wie die turbokapitalistische Parole lautete, die als Leitbild der „Ich-AG“ auch die Hartz-Reformen prägte? Oder umgekehrt als winziger Teil einer Weltgesellschaft? Die ist jedoch so fern und abstrakt, dass sie keine heimelige Wärme erzeugen kann, die wir in frostigen Zeiten brauchen wie Nahrung und Luft.

 

Wenn ich früher mit meinem Sohn gelegentlich ins Stadion ging oder noch früher mit meinem Vater, habe ich erlebt, wie befreiend es sein kann, in einem Kollektiv von Fans aufzugehen, vereint in Schlachtgesängen, im Torjubel oder gemeinschaftlicher Trauer ob einer Niederlage. Auch wenn ich mich hinterher bisweilen über mich selbst wunderte. Nicht unterscheidbar zu sein, trotz aller Individualität, sich einzureihen in etwas Größerem; damit individuelle Verantwortung abzugeben – das kann entlasten vom Stress, sich permanent beweisen zu müssen. Und ist zugleich Versuchung.

 

Vielleicht rührt daher ja der neue, problematische Trend: Individuen finden sich zu höchst individuellen Gruppen und Grüppchen zusammen, die sich dann wiederum auf das Heftigste von anderen abgrenzen. Als Ansammlungen von allerlei stolzen Minderheiten, die Sonderrechte für sich beanspruchen, weil sie glauben, jeweils etwas ganz Besonderes zu sein und deshalb entweder für „das Volk“ oder gar die Menschheit insgesamt sprechen zu können. Gegen andere Gruppen und Minderheiten oder auch die Mehrheit, wenn die überhaupt noch zu ermitteln ist.

 

Dabei sind letztlich jede und jeder nur ein Mensch unter vielen. Etwas Besonderes, aber zugleich auch nichts Besonderes. Dieses Geheimnis offenbart sich für mich in der Maske. Auch da gibt es einen regelrechten Wettbewerb um individuelle, möglichst originelle Gestaltung. Aber nur wenn alle sie tragen, schützen wir uns gegenseitig und alle miteinander. Die Allermeisten tun das, auch wenn manche murren, wie ich gelegentlich auch, weil jeder individuelle Entfaltungsmöglichkeiten haben möchte. Aber wir fügen uns ein in diese Verantwortungsgemeinschaft – zum eigenen Wohl und Wohl aller, besonders der Schwächeren.

 

Für mich hat das etwas Tröstliches. Angesichts der wieder zunehmenden bedrohlichen Corona-Zahlen und Warnungen und meines Alters fühle auch ich mich hin und wieder schwach und ängstlich. Aber als Gemeinschaft sind wir stark. Stärker als jedes Virus, jeder Populist und Extremist, jeder Volksverführer. Was kann uns da noch anhaben? Und hinter der Maske, die uns angleicht, lugt oft genug ein Lächeln hervor. Ganz individuell.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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