Unsere großen Kultureinrichtungen sind nicht in bester Verfassung: Von PR-Agenturen kommt keine Strahlkraft nicht

Vielleicht hat Corona manches verdeckt. Vielleicht ist die Not der Kunstschaffenden inzwischen so groß, dass man darüber die bekannten Probleme in den großen Kultureinrichtungen vergisst. Denn bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass etliche dieser nationalen Institutionen nicht in bester Verfassung sind. Aber kaum jemand regt sich darüber mehr auf. Allen voran das Dickschiff der Szene, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Ihre Schwachstellen sind sichtbar geworden, als ein Gutachten des Wissenschaftsrates sie öffentlich machte. Aber das ist kein Preußenproblem. Man könnte Ähnliches auch aus anderen Häusern berichten. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach beispielsweise hat nach dem Ende der glanzvollen Ära Raulff vor allem durch interne Querelen von sich reden gemacht. Erst allmählich scheinen sich die Wogen dort wieder zu glätten. Auch die Bauhaus-Stiftung in Dessau steht nach dem zurückliegenden Jubiläumsjahr buchstäblich kopflos da und ohne erkennbare Idee, was dort künftig geschehen soll. Die Politik ist auf der Suche nach einem passenden Leiter. Die Amtsinhaberin hat sich vom Acker gemacht.

 

Auch die Stiftung Weimarer Klassik, die zweitwichtigste in unserem Lande, hat wieder einmal mit sich selber zu tun. Man befindet sich dort in einem Leitbildprozess, was das neue Zauberwort ist für zeitgemäße Entwicklung. Das klingt, gemessen an den früheren Problemen in Weimar – der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek wirkt nach – recht harmlos. Und das ist es wohl auch, wenn man liest, was von den neuen Strategen zu Papier gebracht wurde. „Wir lernen und entwickeln uns“, heißt eine dieser treuherzigen Formulierungen, die man mithilfe von Fragebögen, Stoffsammlungen, Workshops und Multiplikatoren aufwendig erarbeitet hat. Was denn wohl sonst? Man muss sich nur einmal vor Augen halten: Eine Institution, die zu DDR-Zeiten als „nationale Forschungs- und Gedenkstätten“ firmierte und im Volksmund kurzerhand VEB Goethe hieß; die nach der Wende den Auftrag hatte, das Weimarer Erbe für die Welt zu bewahren, eine solche Institution versucht sich mithilfe einer Kulturagentur derzeit wohl neu zu erfinden. „Vergangenheit erforschen, Gegenwart gestalten, Zukunft entwerfen“heißen die Schlagworte dieses fulminanten Programms. Darauf wäre wohl niemand von alleine gekommen. Es geht – so der O-Ton – um nichts weniger als einen „fundamentalen Transformationsprozess“ in einer der „komplexesten Gedächtnis-, Kultur- und Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik“. Toll! Dafür definiert man jetzt „Meilensteine“ und startet den „Teamprozess“, Bottom-up natürlich, wie die Agenturen so etwas nennen, denn für Top-down bräuchte man ja noch selbst eine Idee.

 

Ich kann mir das sehr gut vorstellen: wie Mitarbeiter – die eigentlich etwas anderes zu tun haben – in Murmelgruppen beraten oder mit Holzklötzchen Gleichgewichtsspiele spielen. So lernt man Geschichte in „hochkonzentrierter“ Form zu bewahren oder „gesellschaftliche Fragestellungen“ auf Gegenwart und Zukunft auszurichten. Und das auch noch digital!

 

Ach, es ist schrecklich! Es wirkt so abgekupfert aus der heutigen Unternehmenswelt, so abgeschrieben aus den Managementbüchern; wie man Strukturen zerschlägt und flache Hierarchien fördert; überhaupt: wie man die Dinge vom Kopf auf die Füße stellt und manchmal auch andersherum.

 

Nur die alte hermeneutische Tugend des Zuhörens kommt zu kurz, und die Achtung vor dem, was man vorgefunden hat.

 

„Strategische Neuordnung“ heißt das im Beraterjargon. Doch was hat das mit Weimar zu tun? Probleme gab es dort immer zuhauf, aber sie waren meist hausgemacht. Der Etat war von Anfang an zu klein, die Personalauswahl schwierig; die Liegenschaften blieben katastrophal ungeordnet und nicht einmal im Kulturstadtjahr war die Umgestaltung des Goethemuseums fertig geworden. Aber eines schien lange unbestritten: die Einsicht, dass es in Weimar ein besonderes Erbe zu wahren gilt. Als die Lutherbibel in der Anna-Amalia-Bibliothek zu verbrennen drohte, hat sie ihr Direktor mit bloßen Händen gerettet. Die FAZ hat das süddeutsche Pendant, das Marbacher Literaturarchiv einmal für die „Goldreserven“ des deutschen Geistes gehalten. Für die Sammlungen in Weimar gilt das nicht anders.

 

Vom Wechsel an der Spitze von Marbach ist mir nur eine Ankündigung in Erinnerung geblieben. Man wolle, so hieß es, sich künftig auch um das Thema Gaming kümmern. Das muss wohl so sein, auch wenn das dafür geeignetere Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien nur einen Steinwurf entfernt ist. Aber was will man für solche Ideen lassen? Für „on top“ sind die Zeiten vorbei. Im englischen Leicester ist man schon weiter. Dort hat man die Frühwerke der englischen Literatur, den Beowulf oder die Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer aus dem akademischen Kanon entfernt. Zugunsten, wie es heißt, „aufregend innovativer“ und „thematisch gesteuerter Module“ als Teil einer langfristigen Strategie, um auf „globaler Ebene zu konkurrieren“. Das ist dieselbe elende Sprache, die man aus Weimar jetzt hört. Vom Genius loci keine Rede. Davon ist nur der Markenprozess übrig geblieben.

 

Was den Reiz von Marbach hingegen begründet, war der schwäbische Weltgeist, der sich dort einquartiert hat. Der alte Gründungsdirektor Zeller hat ihn leibhaftig verkörpert: von Schwaben hinaus in die literarische Welt. Er war wie ein Herbergsvater, darin Paul Raabe sehr ähnlich, der diese Rolle im braunschweigischen Wolfenbüttel ganz meisterhaft gab. In Marbach läge die große deutsche Literatur begraben, hat der Kritiker Volker Weidermann einmal gesagt. Dort werde sie „bewahrt, gesammelt, geordnet, bereitgehalten und in immer neuen Formen ans Licht geholt“. Was – um Himmels willen – will man denn mehr? Wer in Marbach geforscht hat, liest man im ironischen Tweet eines Nutzers, der wisse, dass sich „daselbst in den Katakomben unter der Schillerhöhe atombombensichere Gänge und Regale“ befinden. Die Dichtung werde dort überleben, heißt das leicht bitter, auch wenn es keine Leser mehr gibt. „Lebendiges für Lebendige“ will man stattdessen heute in Weimar. Aber man findet nur eine „30-Sekunden-Funktion“. Mit einem Blick soll man das neue Leitbild erfassen. Mehr Lebenszeit wäre wahrlich falsch investiert.

 

Warum lässt eine große Kulturinstitution sich auf so einen Hokuspokus ein? Warum gibt die neue Direktorin ihren Segen dazu? Ich kann mich noch gut an die Zeit nach der Wende erinnern, da war das Museumswunder von Gera ganz persönlich mit ihrem Namen verbunden. Am Leitbildprozess kann das wohl nicht gelegen haben. Eher an einem großen Namenspatron wie Dix. Aber warum trauen sich viele der Häuser heute selbst nichts mehr zu? Warum suchen sie Rat bei Schamanen? Und: Warum treten sie lieber zur Seite, wenn es um das kulturelle Vermögen in unserer Gesellschaft geht. Die Kirchen haben sich in Corona-Zeiten bitter darüber beklagt, nicht als systemrelevant wahrgenommen zu werden. Über den eigenen Anteil daran haben sie lieber geschwiegen. Wenn es den großen Museen und Stiftungen nicht ähnlich ergehen soll, dann müssen sie deutlicher in Erscheinung treten. Was würde Ludwig Thoma ihnen wohl raten? Von Leitbildprozessen und PR-Agenturen kommt keine Strahlkraft nicht.

 

Zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

 

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
Vorheriger ArtikelCorona-Pandemie: Der Föderalismus ist in einer schweren Krise
Nächster ArtikelDie Zivilgesellschaft in Quarantäne