Als die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Kultur in Deutschland“ vor 20 Jahren das Thema Staatsziel Kultur auf ihre Agenda setzte, fing sie nicht beim Nullpunkt an. Bereits 1981 bis 1983, also in der alten Bundesrepublik, wurde sich in der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge“ intensiv mit der Verankerung des Staatsziels Kultur befasst. Diese Kommission kam nach eingehenden Beratungen und unter Hinzuziehung weiterer Expertise mehrheitlich zum Schluss, dass eine Staatszielbestimmung zum Schutz der kulturellen und der natürlichen Lebensgrundlagen in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte. Ins Spiel gebracht wurde bereits seinerzeit Art. 20 GG, hier sollte das Staatsziel Kultur verankert werden.
Im Einigungsvertrag wird in einem eigenen Kapitel „VIII. Kultur, Bildung und Wissenschaft, Sport“ auf die Bedeutung von Kultur für das Gemeinwesen eingegangen. Besonders wichtig ist Art. 35 des Einigungsvertrags, da hier das vereinigte Deutschland als Kulturstaat bezeichnet wird. Weiter wird auf das Erfordernis der Kulturfinanzierung abgehoben.
Im Nachgang zur deutschen Einheit wurde die „Gemeinsame Verfassungskommission“ eingesetzt, die den Auftrag hatte, sich mit Änderungen des Grundgesetzes und speziell mit neuen Staatszielbestimmungen auseinanderzusetzen. Im Jahr 1992 empfahl die »Gemeinsame Verfassungskommission“ das Staatsziel zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in das Grundgesetz aufzunehmen. Der Vorschlag, das Staatsziel Kultur zu verankern, fand in der Kommission nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Kultur-Enquete
Die Debatten in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Kultur in Deutschland“ waren also ein erneuter Anlauf, um das Staatsziel Kultur im Grundgesetz zu verankern. Die Enquete-Kommission hat wiederum Sachverständige angehört. Sie hat die Verfassungen der Länder zurate gezogen und einen Blick in das europäische Ausland geworfen. Ferner hat sie mögliche Formulierungen und ihre Wirkungen durchgespielt. Eine wichtige Rolle in den Debatten spielte die Frage, ob Art. 5 Abs. 3 GG „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei« bereits das Staatsziel Kultur normieren. Nach gründlichen Diskussionen haben die Mitglieder der Enquete-Kommission schließlich am 1. Juni 2005 einstimmig dafür votiert, das Staatsziel Kultur mit einem eigenen Satz Art. 20b GG mit dem Wortlaut „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ einzufügen. In ihrem Zwischenbericht (Drucksache 15/5560) zum Ende der 15. Wahlperiode dem Deutschen Bundestag hat die Enquete-Kommission ihr Vorgehen und ihre Empfehlung ausführlich erörtert.
Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestags wurde 2002 erneut eingesetzt. Sie beschäftigte sich noch einmal mit dem Thema und bekräftigte in ihrem Schlussbericht (Drucksache 16/7000) erneut einstimmig ihren Beschluss und fügte den oben erwähnten Zwischenbericht in ihren Schlussbericht ein.
In der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Kultur in Deutschland“, der ich, Olaf Zimmermann, sowohl in der 15. als auch der 16. Wahlperiode angehören durfte, wurde also das Für und Wider eines Staatsziels Kultur im Grundgesetz gründlich abgewogen und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Die genannte Enquete-Kommission hat sich mit den verfassungsrechtlichen Grundlagen, mit den zurückliegenden Diskussionen zum Staatsziel Kultur im Grundgesetz, mit Modellen möglicher Verfassungsänderungen, mit der Kulturverfassung des Bundes und den Kulturverfassungen der Länder sowie mit Kultur in ausgewählten europäischen Verfassungen ausführlich und fundiert befasst. Sie hat eigene Anhörungen hierzu durchgeführt und umfänglich die Literatur zu der Fragestellung zurate gezogen. Vor der Beschlussfassung wurden die Bedenken gegenüber einer Grundgesetzänderung ebenso wie die Vorzüge eingehend beraten. In diesem Zusammenhang wurde sich insbesondere mit den Auswirkungen der Staatszielbestimmung Schutz und Förderung der Kultur auseinandergesetzt und unterstrichen, dass diese Staatszielbestimmung einen inhaltlichen Einfluss auf die Kultur nicht zur Folge hat. Schutz und Förderung der Kultur bedeuten Schutz und Förderung der kulturellen Freiheit. Breiten Raum nahm in der Diskussion die Frage ein, ob ein Staatsziel Kultur erforderlich ist, obwohl in der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat definiert wird.
Nach Abwägung der verschiedenen, auch in öffentlichen Anhörungen vorgetragenen Argumente kam die genannte Enquete-Kommission zu dem Schluss, dass ein Staatsziel Kultur wichtig sei. Ein Staatsziel Kultur würde als Auslegungsgrundsatz im Zusammenhang mit anderen Grundrechten dienen. Es würde mit Blick auf das kulturelle Erbe die Verantwortung des Staates unterstreichen, dieses zu bewahren und zu schützen. Weiter wird mit dem Staatsziel Kultur deutlich, dass Kultur unter Haushaltsgesichtspunkten nicht als nachrangig beurteilt werden darf. Gleichwohl lässt sich aus dem Staatsziel kein unmittelbarer Anspruch auf individuelle Kulturförderung ableiten.
Die genannte Enquete-Kommission hat sich ferner intensiv mit dem möglichen Wortlaut einer Staatszielbestimmung Kultur befasst und schließlich der erwähnten Formulierung „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ in einem eigenen Art. 20b GG den Vorzug gegeben.
In der 16. Wahlperiode brachte die FDP-Fraktion, seinerzeit in der Opposition, einen Gesetzesentwurf zur Einführung des Staatsziels Kultur (Drucksache 16/387) in den Deutschen Bundestag ein. Die FDP-Fraktion hat in diesem Antrag die Formulierung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ übernommen. Der Rechtsausschuss befasste sich mit dem Antrag und führte hierzu eine Anhörung durch. Der Gesetzesentwurf fiel der Diskontinuität zum Opfer, da die Legislaturperiode endete, bevor der Antrag abschließend behandelt wurde.
In der Folge wurden in den Koalitionsverträgen verschiedene Anläufe genommen, das Staatsziel Kultur auf die Agenda zu setzen. Teilweise mit vagen Versprechen, sich insgesamt mit den Staatszielbestimmungen zu befassen, teilweise wie im aktuellen Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP mit einer konkreten Absichtserklärung, Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel zu verankern.
Deutscher Kulturrat
Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, unterstützt die Formulierung der Enquete-Kommission und hat sie sich zu eigen gemacht. Sie ist offen genug, um der Vielfalt und der stetigen Weiterentwicklung kultureller Ausdrucksformen ebenso Rechnung zu tragen wie dem Schutz des kulturellen Erbes. Der Satz »Der Staat schützt und fördert die Kultur« impliziert die Kultur in ihrer ganzen Vielfalt. Er macht keine Aussage zu vermeintlicher Hoch-, Breiten- oder populärer Kultur, sondern nimmt die Kultur als solche in den Blick. Angesichts der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und im Bundesrat sollte sich auf eine möglichst pragmatische Formulierung verständigt werden, die von einer breiten Mehrheit getragen werden kann.
Die Formulierung entspricht auch der Intention der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, die von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde.
Wirkung eines Staatsziels Kultur
Eine immer wieder aufkommende Frage ist, ob ein Staatsziel im Grundgesetz wirklich nützlich sein kann. Zwei Beispiele sollen zeigen, dass ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz kein Placebo sein würde.
Während der Coronapandemie wurde bei den Schutzbestimmungen im Infektionsschutzgesetz der Bedeutung der Kultur erst nach heftigen Protesten der Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker des Deutschen Bundestags und auch von uns Rechnung getragen. Später musste bei jeder Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf die besondere Bedeutung der Kunstfreiheit mit Blick auf den Werkbereich, also der künstlerischen Tätigkeit selbst, und den Wirkbereich, also der Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks, hingewiesen werden. Ferner wurden Kultureinrichtungen und Freizeiteinrichtungen zusammen aufgeführt. Dem grundgesetzlich garantierten Schutz der Kunstfreiheit wurde damit nicht ausreichend Rechnung getragen.
Ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz hätte geboten, dass die besondere Bedeutung der Kultur bei der Formulierung des Infektionsschutzgesetzes entsprechend gewürdigt wird.
Ein Staatsziel Kultur müsste auch bei der gerade stattfindenden Umsetzung der CER-Richtlinie (EU-Richtlinie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen) und zur Stärkung der Resilienz kritischer Anlagen beachtet werden. Obwohl der Bund aufgrund völkerrechtlicher Verträge (Haager Konvention) für die Langzeitarchivierung von (mikroverfilmten) Dokumenten zur deutschen Geschichte zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten verpflichtet ist, wird diesem Umstand im aktuellen Referentenentwurf zum KRITIS-Dachgesetz nicht ausreichend entsprochen. Kultur wird im aktuellen Referentenentwurf nicht als kritische Infrastruktur benannt. Weiter wird die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien nicht zu den Bundesressorts gezählt, mit denen das Bundesministerium des Innern und Heimat einvernehmlich bestimmt, welche Einrichtungen als kritisch anzusehen sind.
Das Staatsziel Kultur im Grundgesetz hätte auch hier geboten, dass dem Kulturschutzgedanken bei diesem Gesetzgebungsvorhaben ausreichend Rechnung getragen wird.
Die beiden genannten Beispiele zeigen, dass die Verankerung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz über die Kulturförderung deutlich hinausgeht. Es geht darum, bei Gesetzgebungsvorhaben des Bundes das Staatsziel Kultur wie andere Staatsziele auch in die Abwägungsprozesse adäquat einzubeziehen. Die besondere Verantwortung des Bundes in der Kulturpolitik liegt in der Gestaltung der Rahmenbedingungen und gerade nicht in der Kulturfinanzierung, wo er ohnehin den kleinsten Anteil der drei staatlichen Ebenen einbringt.
Föderalismusneutral
Bereits die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« hat herausgearbeitet, dass das Staatsziel Kulturföderalismusneutral ist. Die Kulturhoheit der Länder wird durch ein solches Staatsziel nicht beschnitten. Ähnlich wie Art. 7 Abs. 1 GG „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“ die Zuständigkeit der Länder in Bildungsfragen nicht eingrenzt, würde ein Staatsziel Kultur in das Handeln der Länder nicht eingreifen oder es obsolet machen.
Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gehört, vollkommen zu Recht, seit Langem zu den Staatszielen, das Pendant der Schutz der kulturellen Lebensgrundlagen, das Staatsziel Kultur, ist nach wie vor ein Desiderat.
Neuer Anlauf
Der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags hatte am 20. September dieses Jahres zur Öffentlichen Anhörung zum Staatsziel Kultur eingeladen, um neuen Schwung in die festgefahrene Debatte zum Staatsziel Kultur zu bringen. SPD, Bündnis 90/Die Grünen, die FDP und die Linke haben ihre Unterstützung in der Anhörung signalisiert. Nur die Union sagte in der Anhörung Nein zum Staatsziel Kultur. An der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, das ist die Befürchtung, könnte die Verankerung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz jetzt wieder scheitern.
Damit das Staatsziel Kultur im Grundgesetz aufgenommen werden kann, bedarf es einer Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten im Deutschen Bundestag und von zwei Dritteln der Länder im Bundesrat. Das bedeutet konkret, dass ohne eine Unterstützung von Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion das Staatsziel Kultur in dieser Wahlperiode nicht in das Grundgesetz aufgenommen werden kann.
Damit das Staatsziel Kultur keine „never ending story“ wird, appellieren wir an die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die Verankerung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz noch in dieser Wahlperiode zu unterstützen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023