Kultur als verknüpfendes Element in Europa

Eröffnungsrede zum 2. Tag des Europäischen Kongress: Die europäische Stadt und ihr Erbe am 09.12.2016 in Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

„Kultur als verknüpfendes Element in Europa“ ist das Thema meiner Rede, ich will mich ihm von verschiedenen Richtungen zu nähern.

 

Dabei will ich

 

  • zuerst auf die Rolle, die die Wirtschaft im gemeinsamen Projekt Europäische Union einnimmt, eingehen und davon die Bedeutung der Kultur abgrenzen,
  • danach will ich mich mit der Rolle der Kultur in den europäischen Verträgen befassen,
  • ich möchte dann zur Kulturförderung in Europa kommen,
  • um schließlich mit dem großen Thema „Kultur und Identität“ und hier besondersder Bedeutung des kulturellen Erbes für die Identität zu enden.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

heute erscheint es uns vielfach als selbstverständlich, dass es ein gemeinsames kulturelles Band in Europa gibt, das die Mitgliedstaaten der Europäischen Union eint und die Europäische Union darüber hinaus mit ihren Nachbarstaaten sowie den Mitgliedern des Europarates verbindet.

 

Und immer wieder wird das Zitat des großen Europäers Jean Monnet bemüht: „Wenn ich nochmals mit dem Aufbau Europas beginnen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen.“

 

Gerade in kulturpolitischen Kreisen oder bei Kulturvermittlern wird dieses Zitat gerne angeführt, um die Kultur als gemeinsame transzendente Struktur von der rein ökonomischen Interessen folgenden Wirtschaft abzugrenzen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

erlauben Sie mir, dieses Bild gründlich zu zerstören. Ich bin der festen Überzeugung, dass der europäische Einigungsprozess nur unter dem Primat der Wirtschaft gelingen konnte.

 

Erinnern wir uns zurück. Der erste europäische Vertrag war die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“. Die Initiative hierzu ging vom Franzosen Robert Schumann im Jahr 1950 aus. Schumann sprach sich zunächst dafür aus, die Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und Deutschlands unter eine Behörde zu stellen. Es fanden sich weitere Mitstreiter, sodass die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, zumeist Montanunion genannt, im Jahr 1951 durch Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande gegründet wurde.

 

Diese sechs Staaten, auch die Gründerstaaten der EU genannt, vereinbarten gemeinsame Institutionen zur Regulierung von Kohle und Stahl. An Institutionen wurde gebildet:

 

  • die Hohe Behörde, der Nucleus der EU-Kommission
  • der Ministerrat, der Vorläufer des Rates der EU und
  • die Beratende Versammlung, hieraus ging das EU-Parlament hervor

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

rufen wir uns noch einmal den Zeitpunkt des Schumannschen Vorstoßes in Erinnerung:

 

  • der von Deutschland ausgehende 2. Weltkrieg war erst fünf Jahre zu Ende, Trümmer und zerstörte Häuser waren allerorten zu finden,
  • der europäische Kontinent war geteilt in Ost und West,
  • zwei der Gründerländer der Montanunion, Deutschland und Italien, hatten den Krieg verloren und
  • gerade in Deutschland war über mehr als einem Jahrzehnt Kunst und Kultur zu propagandistischen Zwecken benutzt worden,
  • viele Künstler, die verfolgt wurde, waren noch immer im Exil.

 

Die Kultur, die so stark von einer Diktatur in Anspruch genommen wurde, stand damals nicht für ein neues Europa.

 

Die Montanunion hingegen war etwas Neues. Kohle und Stahl waren die wirtschaftlichen Motoren der Nachkriegszeit. In den Kohle- und Stahlrevieren der beteiligten Staaten fand die Wertschöpfung statt. Sie waren die Motoren des wirtschaftlichen Aufstiegs und Aufblühens.

 

Noch im Nachhinein betrachtet, angesichts einer inzwischen noch stärkeren weltweiten Verflechtung der Wirtschaft, waren die ersten europäischen Verträge, die allesamt Wirtschaftsverträge waren, wegweisend, um Europa im weltweiten Wettbewerb stark zu machen.

 

Hier wurde der Grundstein gelegt, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union heute einen gemeinsamen Binnenmarkt haben und nach außen bei Freihandelsverhandlungen gemeinsam auftreten.

 

Bei aller Kritik, die an einzelnen dieser bestehenden oder geplanten Abkommen zu üben ist und ich gehöre zu den scharfen Kritikern der aktuell in Verhandlung befindlichen CETA und TTIP Abkommen, ist dies eine positive Entwicklung.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

halten wir als erstes fest: nicht die Kultur war das gemeinsame Band, das die Mitgliedstaaten der Montanunion und damit die Gründerstaaten der Europäischen Union zusammenführte, sondern die Wirtschaft war es.

 

Nach der Montanunion bildeten im Jahr 1957 die Römischen Verträge mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den nächsten Meilenstein. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, manche werden sich an die Abkürzung EWG noch erinnern, zielte darauf ab, einen gemeinsamen Markt für Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräfte zu schaffen.

 

Der im Jahr 1963 zwischen Frankreich und Deutschland geschlossene Freundschaftsvertrag, auch Elysee-Vertrag genannt, war dann eines der ersten weitreichenden Dokumente und Abkommen, die darauf abzielten, auch die Kulturbegegnungen zwischen europäischen Ländern zu intensivieren. Gerade die Städtepartnerschaften sollten die Begegnung fördern.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ich bin fest davon überzeugt, dass die handfeste Ökonomie ein gutes Fundament für das europäische Haus bildete.

 

Nach der Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre erlahmte allerdings das Interesse an einer gemeinsamen europäischen Politik. Jener so oft zitierte große Europäer Jaques Delors war es, der in den 1980er Jahren der Idee eines gemeinsamen Europas durch einen gemeinsamen Europäischen Binnenmarktes – sie merken auch hier wieder die Ökonomie – neues Leben einhauchte.

 

Womit ich zu weiteren europäischen Verträgen und vor allem dem Stellenwert der Kultur in den europäischen Verträgen komme.

 

Kultur, so wird oft geklagt, spielt in den europäischen Verträgen, also dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992, dem Vertrag von Amsterdam 1997, dem Vertrag von Nizza 2003 bis zum Vertrag von Lissabon 2007 nur eine untergeordnete Rolle.

 

Dem ist nicht zu widersprechen.

 

Alle diese Verträge zielen darauf ab, die Zuständigkeiten von EU-Kommission, Europäischem Rat, Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten, und hier besonders den Parlamenten der Mitgliedstaaten, auszutarieren. Kompetenzen werden zugeschrieben, eingegrenzt oder abgesprochen.

 

Dabei galt und gilt es, den unterschiedlichen Interessen einer wachsenden Zahl an Mitgliedstaaten gerecht zu werden.

 

Machen wir uns, sehr geehrte Damen und Herren, noch einmal klar, gut zwanzig Jahre von 1951 bis 1973 blieb der Club der genannten sechs Gründerstaaten der Montanunion unter sich.

 

Erst 1973 folgte eine erste Erweiterung mit dem Beitritt des Vereinigten Königreich, Irlands und Dänemark.

 

Nach dem Ende der Militärherrschaft in Griechenland trat Griechenland 1981 bei, 1986 kamen Spanien und Portugal als neue Mitgliedstaaten hinzu. Auch in diesen beiden Ländern musste zunächst eine Demokratisierung stattfinden.

 

Mit der Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990 kam Ostdeutschland hinzu. Im Jahr 1995 traten Schweden, Finnland und Österreich bei. Im Jahr 2004 fand mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten eine erhebliche Erweiterung statt. Als neue Mitglieder wurden aufgenommen: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn, Malta und Zypern. 2007 stießen Rumänien und Bulgarien hinzu und vor drei Jahren im Jahr 2013 wurde Kroatien der vorerst 28. Mitgliedstaat aufgenommen.

 

Je nach dem wie schnell die Austrittsverhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich verlaufen, werden es in zwei bis drei Jahren vorerst wieder 27 Mitgliedstaaten sein,

 

  • die einen gemeinsamen Binnenmarkt haben mit der Freizügigkeit im Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie der Niederlassungsfreiheit
  • und eine mehr oder weniger gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.

 

Diese bisher noch 28 Staaten vereinen wirtschaftliche Interessen. Und sie vereinen Werte, die in der Grundrechte-Charta der EU niedergelegt sind.

 

Und, so verrückt es klingen mag, je größer die EU wurde, je unterschiedlicher die Mitgliedstaaten wurden, je verschiedener ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Einbindung in den Binnenmarkt einerseits und in den Weltmarkt andererseits wurde, desto wichtiger wurde Kultur.

 

Auf den ersten Blick ein Paradox. Aber nur auf den ersten. Denn die große Europäische Union zeichnet sich besonders durch ökonomische Disparität und weniger durch Angleichung aus. Kultur wurde zum verbindenden Element!

 

Trotz der gewachsenen Bedeutung der Kultur darf die EU Kultur nur subsidiär fördern. Zuerst sind die Mitgliedstaaten gefordert, die EU hat nur eine schmale direkte Kulturzuständigkeit. Dass dies so ist, ist nicht zuletzt auch auf Deutschland zurückzuführen.

 

Kultur sollte in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten bleiben. –Das die EU über die Handelspolitik, die Wettbewerbspolitik, die Urheberrechtspolitik, die Steuerpolitik und andere Politikfelder längst wirkmächtig Kulturpolitik macht, sei nur am Rande erwähnt.

 

Da, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kulturpolitik und Kulturförderung der der EU subsidiär ist, ist auch das Budget der Kulturförderung in der Regel relativ schmal.

 

Egal welches Programm sie nehmen, ob Raphael, Ariane und Kaleidoskop als erste Programmgeneration, Kultur 2000, Kultur 2007 oder aktuell Kreatives Europa, die europäische Kulturförderung ist stets ein Zusatz. Sie kann, darf und will die nationale Kulturförderung nicht ersetzen, sie will sie noch nicht einmal unterstrichen. Es geht allenfalls um zusätzliche Vorhaben.

 

Das Budget ist mit Blick auf 28 Mitgliedstaaten und der Möglichkeit das assoziierte Staaten beteiligt werden können, äußerst gering.

 

So entsteht gerade bei der Europäischen Kulturförderung mitunter eine große Lücke zwischen den beschworenen Effekten und den tatsächlichen Ressourcen. Diese Lücke ist meines Erachtens auch bei den europäischen Dokumenten für das Europäische Jahr des Kulturerbes unverkennbar. Hier klafft zwischen dem Anspruch, was durch dieses Jahr alles bewegt werden soll und den zur Verfügung stehenden europäischen Mitteln eine deutliche Lücke.

 

Dass dennoch mit diesem Jahr viel bewegt werden kann und wird, darauf wird später Herr Koch vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz eingehen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

das übergeordnete Ziel des Europäischen Kulturerbejahres besteht darin, ich zitiere: „die gemeinsame Nutzung und Aufwertung des kulturellen Erbes Europas zu fördern, das Bewusstsein für die gemeinsame Geschichte und die gemeinsamen Werte zu schärfen und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen europäischen Raum zu stärken.“

 

Letztlich geht es um die Frage nach der Bildung einer europäischen Identität. Einer gemeinsamen europäischen Identität, die gelebt wird in der Stadtgesellschaft und die ablesbar ist unter anderem am baulichen Erbe.

 

  • Warum ist eine gemeinsame europäische Identität auf einmal so wichtig?
  • Warum soll anhand des baulichen Erbes und der Stadtgesellschaft eine Diskussion und Reflexion des europäischen Kulturerbes stattfinden?
  • Warum auf einmal Kultur im Mittelpunkt und nicht die Wirtschaft?

 

Aus meiner Sicht sind mit Blick auf diese Fragen folgende Aspekte wichtig:

 

  • Zum einen wird, wie ich schon angeführt habe, die Wirtschaft als gemeinsames Element in Europa brüchiger. Ich habe die regionalen Disparitäten in Europa bereits angesprochen. Über diese Disparitäten hinaus ist ein gemeinsamer Markt nicht so attraktiv als dass er tatsächlich Bindungskraft entfalten kann oder wie bereits Jaques Delors wusste: „In einen Binnenmarkt verliebt sich niemand“.
  • Die Wirtschaft, so wichtig die Konzentration hierauf am Anfang des europäischen Einigungsprozesses auch war, kann kein starkes verbindendes Element Europas mehr sein.
  • Die Globalisierung ist für viele Menschen immer deutlicher auch negativ spürbar.
  • Und nicht zuletzt die Debatten um Migration und Zuwanderung, hat die Diskussion um eine auch europäische Identität verstärkt. Eine Diskussion, die einerseits in Form einer Abgrenzung geführt wird unter dem Motto: hier das christlich-jüdische Abendland und dort die anderen. Und andererseits aber auch Selbstvergewisserung stattfindet, in Form einer Reflexion was die eigene, die europäische Identität ist, was die Menschen in Europa verbindet und welche Spuren die wechselvolle Geschichte Europas hinterlassen hat.

 

Diesen wechselvollen Spuren zu folgen, sei es das Erbe der Mauren in Spanien, der Niederländer in Brandenburg und anderes mehr zieht sich nach meinem Verständnis durch das europäische Kulturerbejahr.

 

Ich bin der Überzeugung, dass in dem europäischen Kulturerbejahr und darüber hinaus deutlich wird,

 

  • dass Europa eben mehr zu bieten als einen gemeinsamen Markt,
  • dass die Europäer mehr verbindet als der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr,
  • dass Kultur heute eine wichtige Klammer in Europa ist.

 

Eine Klammer, die von Menschen gelebt wird und am Erbe erkennbar und vermittelbar wird.

 

Dass wir uns jetzt mit dieser gemeinsamen Klammer offensiv beschäftigen können, ist dem Wirken jener Europäer zu verdanken, die die Kultur zwar nicht bewusst an den Anfang des europäischen Einigungsprozesses stellten, aber europäische Kultur gelebt haben.

 

Die Kultur ist heute die wirkliche Chance für das vereinigte Europa!

 

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

 

Link zum Europäischen Kongress: Die europäische Stadt und ihr Erbe

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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