Mitte Mai 2023 wurden die Ergebnisse der IGLU-Studie 2021 veröffentlicht, und das Ergebnis für Deutschland ist geradezu desaströs. Ein Viertel aller Viertklässler kann nicht oder nur unzureichend lesen und hat ein nur mangelhaftes Textverständnis. Eigentlich hätte ein Sturm der Entrüstung entbrennen müssen.
Die jetzt veröffentlichte IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) erlaubt erstmals einen Rückblick auf 20 Jahre, denn im Jahr 2001 wurde erstmals die Lesekompetenz von Viertklässlern international vergleichend untersucht. Die Ergebnisse für die deutschen Schülerinnen und Schüler sind ernüchternd. Von dem genannten Viertel an Grundschülern, die schlecht bis sehr schlecht lesen können, haben 6,4 Prozent beim Lesen nur ein rudimentäres Textverständnis. Der Wert ist in den letzten 20 Jahren von 3,0 Prozent (2001) über 5,5 Prozent (2016) auf die bereits genannten 6,4 Prozent angestiegen. Oder anders gesagt: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, der so wie gut gar nicht lesen bzw. einen Text nicht verstehen kann, hat sich verdoppelt. Wenn diese Schülerinnen und Schüler nicht in der Sekundarstufe, also den Klassen 5 bis 10, einen immensen Sprung im Leseverständnis machen, werden sie weder in Mathematik, in den Fremdsprachen, in den Naturwissenschaften oder Politik, Geschichte oder Erdkunde folgen können. Sie werden als Erwachsene ihren Mietvertrag, ihren Arbeitsvertrag, komplexe Gebrauchsanweisungen, ganz zu schweigen von komplizierteren Texten nicht lesen können. Ganz abgesehen davon, dass ihnen das Lesen von Literatur kaum möglich sein wird, werden sie von der schriftlichen Meinungsbildung ausgeschlossen sein. Das hat Auswirkungen auf die unabhängige Meinungsbildung, die in einer Demokratie unabdingbar ist. Diese Schülerinnen und Schüler werden, wenn sich ihre Lesekompetenz nicht grundlegend verbessert, ebenfalls auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Die Tätigkeiten in der Berufswelt werden in allen Berufen immer komplexer, Lesen ist die grundlegende Kompetenz zum Verstehen und zur Teilhabe an einer Gesellschaft.
Aber auch die 19 Prozent, deren Lesefähigkeit sich darin erschöpft, explizit angegebene Informationen zu verstehen und auf lokaler Ebene verknüpfen zu können, drohen zu den »Abgehängten« des Bildungssystems zu werden. Ihre Lesefähigkeit ist nicht ausreichend, um den Anforderungen der modernen Welt, auch nicht der Arbeitswelt gerecht zu werden. Überdies ist der Anteil dieser Gruppe von 14 Prozent im Jahr 2001 über 13,4 Prozent (2016) auf die genannten 19 Prozent angewachsen.
Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die sehr gut lesen können, also »unter Bezug auf Textpassagen beziehungsweise den Gesamttext Informationen ordnen und Aussagen selbstständig interpretierend oder kombinierend begründen«, ist von 8,6 Prozent im Jahr 2001 über 11,1 Prozent (2016) auf 8,3 Prozent gesunken. Hier war also mal ein deutlicher Aufwärtstrend zu beobachten, der allerdings einen Rückfall erfuhr.
Die im Zuge der Coronapandemie verfügten Schulschließungen können einen Einfluss auf die Verschlechterung gehabt haben. Allerdings ist bei der untersuchten Stichprobe zu berücksichtigen, dass es sich um Schülerinnen und Schüler handelt, die im Jahr 2021 in der vierten Klasse waren, also 2018 eingeschult wurden. Erste Grundlagen für den Schrifterwerb und das Leseverständnis wurden also vor der Pandemie und den Schulschließungen gelegt.
Werden die mangelnden Lesekompetenzen analysiert, erweist sich wiederum einmal mehr, dass eine erhebliche soziale Segregation besteht. Kinder aus Familien in schwierigen sozialen Verhältnissen mit wenig Einkommen gehören sehr viel häufiger zu denen mit geringer Lesekompetenz als Kinder aus einkommensstarken Familien. Die Autorinnen und Autoren der neuen IGLU-Studie schreiben: »Ein weiteres wesentliches Fazit ist: In den 20 Jahren seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten IGLU-Studie hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland praktisch nichts verändert. Die Befunde von IGLU 2021 zeigen, dass die sozialen Disparitäten in Deutschland stark ausgeprägt sind … die migrationsbezogenen Disparitäten in Deutschland im internationalen Vergleich sogar stärker ausgeprägt sind. Die Befunde anderer Teilnehmerstaaten und -regionen mit positiveren Ergebnissen, wie beispielsweise Dänemark oder Italien, machen deutlich, dass diese Zusammenhänge mit der familiären Herkunft kein unausweichlicher Automatismus sind.«
Die Autorinnen und Autoren der IGLU-Studie stellen der Bildungspolitik ein schlechtes Zeugnis aus. Sie schreiben: »Nach dem PISA Schock formulierte die KMK 2001 Ziele für die Weiterentwicklung der Bildung in Deutschland. Die in diesem Bericht vorgelegten Ergebnisse, die die Entwicklung der letzten 20 Jahre bilanzieren, zeigen in einiger Klarheit: Die Ziele wurden an vielen Stellen verfehlt.« Ein schlechteres Zeugnis für Bildungspolitik und -verwaltung kann kaum ausgestellt werden.
Konkret werden in der IGLU-Studie folgende Vorschläge zur Verbesserung des Lesenlernens gemacht:
- Die Quantität des Lesens in der Grundschule muss zunehmen.
- Die Binnendifferenzierung muss verbessert werden, um den jeweiligen Schülergruppen gerecht zu werden. Gleichfalls sollte Ganztagsunterricht mit entsprechend qualifizierten Fachkräften genutzt werden, um insbesondere Schülerinnen und Schüler mit geringer Lesekompetenz zu unterstützen.
- Die individuelle Diagnostik der Lesekompetenz muss mit gezielter Förderung verknüpft werden.
- Die Aus- und Weiterbildung der Grundschullehrkräfte in der Sprach- und Leseförderung muss verbessert werden. Hierzu zählt auch die systematische, zielführende Nutzung digitaler Medien im Unterricht.
- Die Frühförderung in den Kindertagesstätten muss insbesondere mit Blick auf den Spracherwerb verbessert werden.
- Die Sprachförderung auch in der Grundschule muss systematisiert und verbessert werden.
Die Umsetzung dieser richtigen und wichtigen Ziele wird, so ist der bildungspolitische Erfahrungswert, allerdings Zeit beanspruchen. Es wird daher erforderlich sein, direkt und unmittelbar zu handeln.
Dabei brauchen wir keine bundesländerspezifische Auswertung. Es ist mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit, Teilhabe an der Gesellschaft und die Gewinnung von Arbeitskräften vollkommen unerheblich, ob die Schülerinnen und Schüler in Sachsen, Thüringen oder Bayern um ein paar Prozentpunkte besser sind als die in Bremen oder Berlin, um die »klassischen Gewinner- und Verliererländer« von Bildungsstudien zu benennen. Niemand wird von Bremen nach Sachsen ziehen, nur weil dort die Schulen tatsächlich oder vermeintlich besser sind. Schulabsolventinnen und -absolventen aus Berlin werden aber vielleicht in Bayern eine Ausbildung oder ein Studium beginnen und dann an den dort geltenden Standards gemessen.
In den kommenden Jahrzehnten wird Deutschland einen erheblichen Fachkräftemangel haben. Bereits jetzt werden erhebliche Anstrengungen unternommen, Fachkräfte aus sogenannten Mangelberufen, z. B. in der Pflege, im Ausland anzuwerben. Wenn alle Betrachtungen außer Acht gelassen werden, welch einen persönlichen Verlust mangelnde Lesekompetenzen für den Einzelnen bedeuten und welche Einschränkungen an der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und letztlich der Demokratie damit verbunden sind, ist es ökonomisch verantwortungslos, wenn hingenommen wird, dass ein Viertel aller Viertklässler über unzureichende Lesekompetenzen verfügt.
Was ist unserer Ansicht nach jetzt zu tun?
1. Bundesprogramm Leseförderung
Der Bund sollte ein ausreichend ausgestattetes Bundesprogramm Leseförderung auflegen und dabei auf eine Kooperation mit den Ländern verzichten. Das Programm sollte außerunterrichtlich in den Schulen durch kompetente Organisationen, gerne auch zivilgesellschaftliche Partner, umgesetzt werden. Dieses Programm sollte insbesondere die Grundschulen in den Blick nehmen, denn es steht zu befürchten, dass die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler, die im Jahr 2020 eingeschult wurden und lange Phasen des Lockdowns gerade in der ersten Phase des Leseerwerbs erfahren haben, in wenigen Jahren noch verheerender sein werden als in der aktuellen IGLU-Studie.
2. Jungenspezifische Leseangebote
Eine Zielgruppe sollte dabei besonders in den Blick genommen werden: die Jungen. Wieder einmal erweist sich in der IGLU-Studie, dass Mädchen im Durchschnitt besser abschneiden als Jungen. Sie können besser lesen und sind leseinteressierter. Jungenspezifische Leseangebote sind daher sehr wichtig, um deren Chancen zu verbessern.
Mit den Bibliotheken, der Stiftung Lesen und anderen gibt es kompetente Akteure, mit denen eine Leseoffensive umgesetzt werden kann. Jetzt gilt es zu klotzen und nicht zu kleckern, um Kindern Bildungschancen und damit die Teilhabe an Demokratie und Gesellschaft zu ermöglichen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2023.