„Ich kann mir gut vorstellen, dass die Kultur im Ministeriumszuschnitt aufgewertet wird“

Robert Habeck im Gespräch

Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, steht kurz nach dem Bundesparteitag seiner Partei Hans Jessen Rede und Antwort. Sie sprechen über Corona-Hilfen, die Rettung der Innenstädte und ein Bundeskulturministerium.

 

Hans Jessen: Herr Habeck, in Ihrer Rede zur Eröffnung des Grünen Bundesparteitags Ende November, der erstmals als Online-Parteitag abgehalten wurde, sagten Sie: „Die Pandemie und ihre Folgen verstärken eine Entwicklung, die schon lange zuvor eingesetzt hat: (…) Wir müssen nicht mehr ins Kino oder Theater gehen, wir können im Wohnzimmer streamen. Wir müssen nicht mehr in die Innenstädte, wir können online shoppen. Wir müssen nicht mehr zu politischen Veranstaltungen, wir haben ja unsere Facebook- oder Twitter-Blasen, in denen sich Gleichgesinnte im Rechthaben bestätigen.“ Ist die Pandemie ein Beschleuniger entkulturalisierender Prozesse?

Robert Habeck: Ja, das ist meine Wahrnehmung und Sorge. Die Pandemie ist wie ein Katalysator: Sie verschärft die sozialen, politischen, gesellschaftlichen, normativen Konflikte, die vorher schon da waren. Das schließt den kulturellen Rahmen ein, sowohl konkret Kulturpolitik als kreative Leistung wie aber auch Kultur als gesellschaftliche Formation. Das ist kein guter Befund.

 

Wenn man in diesem Sinne Pandemie als Prozessbeschleuniger nimmt: Welches sind die besonders dramatischen Resultate dieses unguten Befundes?

Zum einen verschärft die Krise soziale Ungleichheiten, die schon vorher da waren: Wer mit drei kleinen Kindern alleinerziehend in einer kleinen Wohnung lebt, hat es mit geschlossenen Schulen viel schwerer, als jemand, der in einem großen Haus mit Garten auf dem Land lebt. Viele Soloselbständige kamen schon vorher kaum über die Runden – und zwar nicht nur Kunst- und Kulturschaffende im engeren Sinne, sondern auch z. B. Bühnenarbeiterinnen und Maskenbildner. Jetzt sind sie teilweise am Existenzminimum. Die unterbliebene staatliche Unterstützung verschärft diese Situation.

Zum Zweiten geht es um die gesellschaftlich-normative Ebene, vielleicht etwas schwieriger zu erkennen. Wer zuvor schon den Eindruck hatte: Ich werde nicht gesehen, die hören nicht auf uns, findet jetzt in der Corona-Pandemie eine weitere Bestätigung. Und die politische Rechte versucht, sich das zunutze zu machen, gezielt Verunsicherung, Wut zu schüren. Das sieht man besonders bei den Demonstrationen.

Ich befürchte, dass dies eine Zerissenheit, vielleicht Spaltung vorantreibt. Der Indikator dafür sind die US-Wahlen, wo sich gezeigt hat, dass – trotz des Siegs von Joe Biden – Corona die Polarisierung verschärft hat.

 

Kulturarbeiter gehen pleite – aber Miete müssen sie trotzdem zahlen, solange es geht. Die Grünen beanspruchen politische Führung. Haben sie ein Konzept gegen die soziale Spaltung? – Den 10-Punkte-Katalog zur Rettung der Innenstädte als kulturelle Lebenszentren unterstützen sowohl Grüne als auch der Deutsche Kulturrat. Darin wird unter anderem verlängerter Mietkündigungsschutz gefordert. Reicht so etwas?

Erst mal ist es richtig, den Mitkündigungsschutz zu verlängern, wobei man aufpassen muss, dass Probleme nicht nur weitergereicht werden: Es gibt nicht nur sehr solvente Vermieter, die reichlich Geld haben. Wenn jemand von seinen Mieteinnahmen lebt und die nicht mehr kommen, wäre diese Person dann die gekniffene.

Aber natürlich reicht das nicht aus. Die Menschen, die jetzt nicht arbeiten dürfen, nicht auf der Bühne, nicht hinter der Bühne, brauchen dringend einen richtigen Unternehmerlohn. Wir haben schon vor Monaten dazu Vorschläge vorgelegt: eine Art Kurzarbeitergeld für Kulturschaffende, das sich am letzten Jahreseinkommen orientiert. Das sollte bei 1.200 Euro gedeckelt sein. Aber lange hat die Bundesregierung das ignoriert, jetzt macht sie auch nur winzige Schritte.

 

Als dieser „Unternehmerlohn“ vor etwa einem Monat erstmals angesprochen wurde, schien das Bundeswirtschaftsministerium zumindest diskussionsbereit. Hat sich da in der Zwischenzeit etwas bewegt, gibt es Fortschritte?

Die Bundesregierung hat mit einer Einmalzahlung von maximal 5.000 Euro einen kleinen Schritt gemacht, der aber längst nicht reicht: Die Menschen werden in Hartz IV gezwungen. Und für die langen letzten Monate erhalten sie nichts, obwohl viele schon auf ihre Altersrücklagen zurückgreifen mussten. Das ist bitter. Nach meinem Eindruck fehlt aber, gerade auch bei den Sozialdemokraten, ein Verständnis für andere Arbeitswelten jenseits der klassischen, die nur von festangestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgeht. Dabei legt die Pandemie genau das offen: Soloselbständige sind zwar selbständig, aber – anders als die freien Berufe wie Anwälte, Ärzte oder Notare – leben sie oft prekär in einer hybriden Arbeitswelt. Sie sind darauf angewiesen, dass öffentliche oder private Aufträge reinkommen. Wenn die ausbleiben, weil es keine Konzerte gibt, weil Clubs und Theater geschlossen sind, sieht man, wie sehr sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Soloselbständige sind neue Arbeiter. In der Krise lernen wir, dass die dringend eine bessere soziale Absicherung brauchen.

 

Der Kultursektor ist Ihnen aus der eigenen Biografie als Schriftsteller vertraut. Seit März geht es um Hilfen für die Betroffenen der Coronakrise. Erst mit den Novemberhilfen wurde akzeptiert, dass nicht Betriebskosten, sondern Umsatz der Maßstab für Kulturschaffende ist. Hat sich da auch eine Ahnungslosigkeit der Ministerialbürokratie über Strukturen des Kultursektors gezeigt?

Das weiß ich nicht, ob es daran liegt. Mir scheint vor allem, dass bei den politischen Entscheidungen der vergangenen Monate das Verständnis, was es bedeutet, als Soloselbständige auf dem Berufsmarkt zu sein, nicht sehr ausgeprägt war. Sie folgten eher dem Narrativ von 2003 oder 2004: „Na ja, dann sind die selber schuld – wer sich so prekär aufstellt, muss halt mit den Risiken leben.“ Die Hilfen für Soloselbständige jedenfalls reichen hinten und vorne nicht. Wenn man das durchrechnet, ist es eher ein Abwatschen als eine Hilfe.

Künstler weisen darauf hin, dass auch die nun verlangten Nachweise bzw. Inanspruchnahme von Grundsicherung zur Folge haben können, dass sie z. B. aus der Künstlersozialkasse rausfliegen, weswegen diese Hilfsmöglichkeiten in Wahrheit gar keine Option seien?

Das ist so. Zwar gibt es derzeit einen erleichterten Zugang zur Grundsicherung. Vermögen wird nicht geprüft. Miete wird als angemessen anerkannt. Aber schon auf Hartz IV angewiesen zu sein, löst bei den Menschen etwas aus. Ein Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, weil sie „nichts tun“ – obwohl sie ja gerade nicht arbeiten dürfen. Die Logik bei Hartz IV, dass man letztlich doch Bedürftigkeit nachweisen muss, passt einfach nicht zur jetzigen Situation.

 

Der Kulturbereich ist der erste, der in der Krise dichtgemacht wurde, und wird der letzte sein, der wieder aufmacht, sagten Sie vor Kurzem. Wie viele der eine Million Arbeitsplätze in diesem Bereich sind ernsthaft bedroht?

Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Aber was ich persönlich im Freundes- und Bekanntenkreis höre, gibt einen Eindruck, es droht ein kultureller Kahlschlag. Es ist zu befürchten, dass Clubs und kulturelle Räume, die jetzt geschlossen haben, nie wieder aufmachen werden. Die Unterstützung für den Kunst- und Kulturbereich bleibt deutlich unter dem, was andere Branchen bekommen. Das lässt sich auch an der Struktur der Hilfen erkennen: In anderen Branchen werden bis zu 75 Prozent der ausgefallenen Gelder zugesagt – bei Soloselbständigen mit den Neustarthilfen sind es 25 Prozent, maximal 5.000 Euro. Wenn jemand als Musikerin auf Hochzeiten spielt, nun aber keine Hochzeitsfeiern mehr stattfinden dürfen, geht sie notgedrungen in einen anderen Beruf, wenn sie denn einen anderen gelernt hat. Wenn irgendwann wieder Hochzeiten mit Musik und Tanz erlaubt sind: Wäre sie dann bereit oder auch nur in der Lage, hier wieder anzufangen? Es ist völlig unklar, wer nach der Pandemie überhaupt noch kulturelle Leistungen erbringen kann.

 

Kultureinrichtungen wie Kinos oder Theater beklagen, dass sie geschlossen bleiben müssen, obwohl sie Hygienekonzepte erarbeitet und auch technisch installiert haben. Ist das verhältnismäßig, oder plädieren Sie für Lockerungen, wo es tragfähige Konzepte gibt?

Es ist ein Strategiewechsel gegenüber dem Sommer, als gesagt wurde: Wo es Konzepte gibt, kann gespielt werden. Der Grund für den Strategiewechsel ist, dass bei Ansteckungsrisiken noch immer zu wenig Wissen da ist, wo die Ansteckungen tatsächlich stattfinden. Es ist nur klar: Die Zahlen müssen runter, irgendwie. Das ist nicht befriedigend, aber im Augenblick ist die Lage einfach so angespannt, dass ich den Kurs notgedrungen mittrage, auch wenn der Kulturbereich als erster davon betroffen ist. Ich hoffe aber sehr, dass die jetzigen Beschränkungen wirken und dass wir in absehbarer Zeit wieder über Lockerungen sprechen können. Da könnte man schrittweise vorgehen: In Regionen mit geringem Infektionsgeschehen kann man gerade für lokale Veranstaltungen eher lockern als in Hotspots.

 

Wie wollen Bündnis 90/Die Grünen Kultur in der kommenden Legislaturperiode fördern? Was wird auf der Agenda stehen?

Die nächste Legislatur beginnt ab September 2021. Ich denke, wir werden dann noch extrem mit den Auswirkungen von Corona zu tun haben. Im besten Fall haben wir es dann mit Wiederaufbauarbeit zu tun. Für die kulturellen Räume ist sicher ein Investitionsprogramm nötig, das die freien Spielstätten und Theater sichert oder auch leer stehende Gebäude für kulturelle Nutzung zur Verfügung stellt. Zum anderen wird es um die bessere Absicherung von Kulturschaffenden gehen.

Meiner Ansicht nach ist es nicht so kompliziert, neben der Renten- und Krankenversicherung, die ja für Kulturschaffende offen ist, auch eine Säule für die Arbeitslosenversicherung aufzubauen.

Kultur ist nicht nur etwas, was Spaß macht, sondern sie schafft die Räume und Diskurse, in denen eine Gesellschaft sich über sich selbst verständigt. Deswegen meine ich, dass das auch institutionell auf Bundesebene geändert werden muss. Mir scheint, dass die Anbindung im Kanzleramt nicht genug Kraft entfaltet hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Kultur im Ministeriumszuschnitt aufgewertet wird, mit einem eigenen Budget und Portfolio.

 

Also ein Bundeskulturministerium?

Es muss nicht ein Ministerium allein für Kultur sein. Man kann das kombinieren mit anderen Bereichen. Aber eine originäre Zuständigkeit und eine eigene Verantwortung, mit einer Ministerin oder einem Minister, die auch als solche agieren können. Das würde die Kulturarbeit deutlich stärken.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.

Robert Habeck & Hans Jessen
Robert Habeck ist Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Hans Jessen ist freier Publizist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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