Großbritannien nach dem Brexit

Auswirkungen auf Kultur und Wissenschaft

Der Brexit mit seiner Einführung von Zöllen, Arbeitserlaubnissen, Visa, Gesundheitszeugnissen und dem Wegfall von lukrativen EU-Förderprogrammen hat nicht nur Auswirkungen auf Politik und Handel, sondern auch auf Kultur, Wissenschaft und Bildung. Die Kreativwirtschaft war mit mehr als zwei Millionen Beschäftigten ausgesprochen erfolgreich, London eines der führenden Zentren, ungemein offen und anregend im Austausch. Aus dem Europäischen Struktur- und Investitionsfonds erhielt Großbritannien für 2014 bis 2020 10,8 Milliarden Euro. Wissenschaft und Forschung waren in starke EU-Förderprogramme wie Erasmus oder Horizon eingebunden.

 

Durch die aufwendigen Verfahren und den Wegfall von Förderprogrammen hat der Brexit hier erhebliche Bremsspuren hinterlassen. Das gilt zunächst verstärkt für die Orchesterlandschaft, die auf Austausch und Tourneen angewiesen ist, aber auch für die berufsbezogene Mobilität generell. Visumfreie Aufenthalte gelten maximal für einen Monat, wenn ein „permitted paid engagement“ vorliegt, ein Visum für drei Monate setzt ein „certificate of sponsorship“ eines britischen Arbeitgebers voraus und bei mehr als drei Monaten werden die Hürden nochmals drastisch erhöht. Das Touren durch Europa ist inzwischen für kleine Bands unverhältnismäßig teuer und kompliziert. Gerade Nachwuchsmusiker sind aber besonders auf Tourneen angewiesen. Nur drei Mal dürfen sie in der EU Halt machen. Britische Künstlerinnen und Künstler werden auch nicht mehr so gern zu Festivals eingeladen, weil es deutlich teurer und komplizierter geworden ist. Was für den Musikbereich gilt, ist auch für Theater- oder Tanzensembles hinsichtlich Tourneen oder langfristigen Engagements gegeben. Museen, die in der Regel gemeinsame Ausstellungen auf Basis direkter Verträge realisieren und bei denen Leihgaben in öffentlicher Hand nicht verzollt werden müssen, sind weniger betroffen, ebenso Autorenlesungen oder Übersetzungsförderung. Das stärkste Bindeglied der europäischen kulturellen Zusammenarbeit war „Creative Europe“. Dieses Programm wird von 2021 bis 2027 ohne Großbritannien stattfinden, das spürbarste Defizit im kulturellen Zusammenwirken. Der Wille und der Ehrgeiz, offen zu bleiben, wird aber offensichtlich wach. Man wehrt sich gegen ein amputiertes kulturelles Europa durch den Brexit. Katharina von Ruckteschell-Katte, Leiterin des Goethe-Instituts London, stellt ein wachsendes Bewusstsein fest für die Unverzichtbarkeit von Kulturbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU und eine starke Überzeugung der Kulturakteure für eine gemeinsame kulturelle Zukunft Europas. Das Goethe-Institut wird dabei wegen seiner Unabhängigkeit besonders geschätzt, aber auch weil es mit seiner regionalen Struktur immer gleich mehrere Länder der EU in die Kooperation mit einbringt. Das sind nicht nur Lippenbekenntnisse, sondern es zeigen sich schon jetzt deutlich mehr Kooperationsanfragen zwischen den nichtstaatlichen Organisationen. Dazu bedarf es neuer Strukturen, neuer Abkommen, die britische Partner mit nationalen und lokalen Kulturorganisationen in Europa verbinden. Das wird nicht schnell gehen. Man kann den Institutionen und Akteuren aber nur raten, diesen Weg in Distanz zur Regierung mit großem Selbstbewusstsein und Zielstrebigkeit zu gehen. Es ist ein Abwenden vom bisherigen Top-down-Verständnis hin zu einem Bottom-up-Ansatz, eine Chance, eine europäische Zukunft zu schaffen, die sich durch die Beteiligung vieler legitimiert. Dieser Perspektivwechsel kann ein kreatives Europa schaffen mit der Überzeugung: „Wir sind Europa“.

 

Wie steht es nun mit der Wissenschaft und dem wissenschaftlichen Nachwuchs? Nach dem Brexit hat der Weggang europäischer Wissenschaftler deutlich zugenommen. Allein 2019 waren es über 600. Rechnet man diejenigen dazu, die sich aus der Forschung wegen einer anderen Berufsentscheidung zurückgezogen haben, kommt man gegenüber 2015 auf 1.120 Personen. Besonders kritisch ist, dass für Großbritannien die EU noch immer nicht entschieden hat, ob das 95,5 Milliarden Euro schwere Forschungs- und Entwicklungsprogramm Horizon Europe über ein Assoziierungsabkomme eine Beteiligung ermöglicht. Ursache ist der Streit um das Nordirlandprotokoll. Ohne eine solche finanzielle Beteiligung kann Großbritannien seine Position als führende Wissenschaftsnation nicht behaupten, britische Wissenschaftler müssten ihre Leitungspositionen abgeben, international anerkannteste Fördermaßnahmen für Wissenschaftskarrieren, wie etwa die ERC Starting Grants, stehen nicht mehr offen.

 

Aber auch der Studierendenaustausch ist massiv betroffen. Zwar läuft das alte Erasmus-Programm noch bis Sommersemester 2023, sodass derzeit Aufenthalte noch bis dahin beantragt werden können. Aber an dem neuen Programm, Laufzeit bis 2027, nimmt Großbritannien nicht mehr teil. Ein Schlupfloch bleibt, wenn europäische Universitäten direkt mit britischen Universitäten Partnerverträge schließen. Dann können Erasmusgelder für Stipendien vergeben werden. Die britische Universität muss jedoch dann auf Studiengebühren verzichten. Dadurch wird die Bereitschaft wohl erheblich gedämpft werden. Ein Vollstudium in Großbritannien wird durch Visa, Krankenversicherung und signifikant höhere Studiengebühren unattraktiv. Für britische Studierende, die im europäischen Ausland studieren wollen, ist es mit allen zu erbringenden Nachweisen ebenfalls schwierig geworden. Großbritannien hat zwar mit dem Turingprogramm einen gewissen Ersatz für heimische Studierende in aller Welt ermöglicht, es bleibt aber in seinen Möglichkeiten und dem finanziellen Umfang hinter Erasmus zurück. Es ist frustrierend zu erleben, dass aus rein politischen Gründen jungen Talenten nicht die in Europa verfügbaren Ressourcen eröffnet werden und damit letztlich eine schleichende Erosion in der Wissenschaftsförderung einsetzt.

 

Es sind nicht nur die Fernsehbilder und tagesaktuellen Meldungen von den EU-Außengrenzen, die das Brexit-Geschehen abbilden, es reicht tiefer. Gerade durch seine Einflüsse auf Kultur und Wissenschaft wird die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften und damit unser Zusammenleben entscheidend belastet. Es bleibt zu hoffen, dass das unabhängige und kreative Denken der Menschen, die im Kultur- und Bildungsbereich tätig sind, neue Wege zur Überwindung des Egoismus finden und zu einer gemeinsamen Form von Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU kommen. Ich traue ihnen einiges zu.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/22.

Klaus-Dieter Lehmann
Klaus-Dieter Lehmann ist Kulturmittler. Er war Präsident des Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie Generaldirektor der Deutschen Bibliothek.
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