Fehlerfrei, aber Visionslos: Neue Leitlinie in der Kunst?

Man soll aus Fehlern lernen, ist sicher einer dieser frommen Wünsche, die überhaupt nichts mit unserer heutigen Realität zu tun haben. Richtig müsste es heißen, man darf keine Fehler machen. Punkt.

 

Unser alter und vermutlich neuer Bundespräsident ist ein Paradebeispiel dafür. Er darf noch einmal fünf Jahre unser Bundespräsident sein, weil, so hört man es aus der Politik und den Medien, er in seinem Amt keine Fehler gemacht hat. Armin Laschet hat im Wahlkampf einen Fehler gemacht und an der falschen Stelle gelacht.

 

Diesem Fehler seines Konkurrenten hat Olaf Scholz unter anderem sein Amt zu verdanken. Schon im Wahlkampf und jetzt auch als Bundeskanzler toppt er noch unsere alte Bundeskanzlerin mit seiner emotionslosen Art Politik zu machen, weil, so meine These, jede Form von Emotion die Fehlerwahrscheinlichkeit erhöht und ihn damit angreifbar macht.

 

Besonders eindrücklich kann man das Wüten der Fehlerfeinde in den sozialen Netzwerken sehen. Was können sich Menschen schadenfroh erfreuen und sich ihrer eigenen Bildung rühmen, wenn sie in einem Tweet von irgendjemandem einen Grammatikfehler finden oder an der fehlerhaften Interpunktion rummäkeln können.

 

Die Streber aus der ersten Bank in meiner Schulzeit haben sich gesellschaftlich durchgesetzt.

 

Auch im Kulturbereich gibt es immer weniger Fehlertoleranz. Ob eine Theaterintendantin oder ein Festspielleiter, keine Fehler sind erlaubt. Sie sollen kreativ sein, sie sollen Neues wagen, aber sie dürfen dabei selbstverständlich keine Fehler machen.

 

Obsession, Ehrgeiz und eine gehörige Portion Selbstliebe, aber auch Unsicherheit und besonders die Bereitschaft ein Risiko beim Erfinden von etwas Neuem einzugehen, sind einige der Zutaten, um Kunst entstehen zu lassen.

 

Gute Künstlerinnen und Künstler sind in der Regel nicht besonders sozialverträglich. Sie machen gerade auch im Umgang mit anderen Menschen Fehler. Als Chefs sind Künstlerinnen und Künstler nicht selten eine Zumutung, aber sie sind eben auch inspirierend.

 

Selbstverständlich darf es auch am Theater und anderswo keine toxische Arbeitsatmosphäre geben und natürlich müssen besonders körperliche Übergriffe jeder Art unterbunden werden. Aber ein künstlerischer Raum ohne Spannung, ohne Emotion, ohne Streit funktioniert nicht.

 

Visionslos, aber fehlerfrei, darf nicht die neue Leitlinie, weder in der Politik und schon gar nicht in der Kunst, werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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