Eine „fundamentale kulturpolitische Wende“

Transformation ist keine Reduktion

Der Begriff „Transformation“ hat Konjunktur und wurde jüngst auch kritisch diskutiert: Ist die vielfach geforderte Transformation nach Corona nicht letztlich eine charmante Umschreibung für eine Reduktion des Kulturbereichs angesichts umfangreicher Rettungsmaßnahmen bei gleichzeitig zu erwartenden verminderten Steuereinnahmen durch die Krise? Eine simple Begriffsanalyse eröffnet hilfreiche Einblicke zu den notwendigen Dimensionen einer Transformation.

 

Was ist eine Transformation?

 

In der Politikwissenschaft wird hier der Wechsel eines politischen Systems verstanden. Eine kulturpolitische Transformation bedarf also eines Systemwechsels. In der Soziologie wird Transformation auch gleichgesetzt mit sozialem Wandel, einer Veränderung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen und der Sozialstruktur, der auch mit einem Wertewandel einhergeht. Eine kulturpolitische Transformation würde also auch einen kulturellen Wertewandel beinhalten. Also letztlich eine „fundamentale Wende“ – so heißt es wortwörtlich in einem Wirtschaftslexikon. Dabei müssten alle „Beziehungen eines Unternehmens zu Einzelpersonen sowie zu seinem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld neu definiert“ werden. Treiber von Transformation können dabei interne oder externe Faktoren – beispielsweise eine Pandemie – sein, die die Notwendigkeit einer Reorganisation auslösen. Entscheidend ist jedoch ein gestalterischer, steuernder Umgang der Reorganisation, so eine Anpassung von einem „Ist-“ zu einem „angestrebten Soll-Zustand“. Es bedarf also einer kulturpolitischen Vision, wohin sich Kultur in Deutschland entwickeln soll, um dann strategische Schritte festzulegen, die diese Umsetzung ermöglichen. Ein „weniger, aber weiter so“ kann also ebenso wenig Grundlage einer kulturpolitischen Transformation sein wie ein Fordern nach mehr finanzieller Unterstützung.

 

Eine Analyse des Ist-Zustands

 

Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist der Kulturbereich kontinuierlich gewachsen. Dabei ist die öffentliche Kulturfinanzierung nicht linear in gleichem Maße mitgewachsen. Ein Grund für das Wachstum liegt in der Verabschiedung eines Kulturkanons in den 1970er Jahren, die zur Entwicklung vieler weiterer Förderbereiche führte, wie Soziokultur, Migrationskultur, Medienkunst etc. Um sich von dem in den 1980er Jahren ebenfalls wachsenden privatwirtschaftlichen Markt abzugrenzen, wurden Begriffe wie die sogenannte E- und U-Kultur bemüht, die in ihrer Trennschärfe jedoch wenig zielführend waren.

 

Um das Wachstum im öffentlichen Kulturförderbereich in den Griff zu bekommen, wurden vor allem drei Strategien verfolgt: Im Zuge der Ökonomisierung öffentlicher Verwaltung wurde im Sinne neuer Steuerungsmodelle eine stärkere Erwirtschaftung von Dritt- bzw. Eigenmitteln gefordert. Zugleich wurden neu hinzukommende Förderbereiche nicht mehr institutionell, sondern vor allem projektspezifisch gefördert. Diese Maßnahmen haben nicht nur den Wettbewerb untereinander verschärft, sondern auch Konkurrenzen zur Kulturwirtschaft geschaffen. Eine weitere Strategie ist das „Gießkannenprinzip“. Symptomatisch für diesen fehlenden kulturpolitischen Gestaltungswillen war das Verlosen von Künstlerstipendien in Berlin als Unterstützung in der Krise. Offensichtlich konnte sich weder zu der Haltung durchgerungen werden, alle Berliner Künstlerinnen und Künstler in der Krise zu unterstützen, noch Qualitätskriterien zu entwickeln, die eine konkrete Auswahl von 2.000 Künstlerinnen und Künstlern legitimierten.

 

Fehlt es an transparenten Förderkriterien? In der Tat schwer einzugrenzen sind bestehende Prinzipien der öffentlichen Kulturförderung, wie zu fördern, was nicht am Markt bestehen kann, Bewahrung des kulturellen Erbes oder Förderung von Innovationen bzw. der Avantgarde. Seit Hilmar Hoffmanns Aufruf „Kultur für alle“ gewinnt kulturelle Teilhabe als weiteres Ziel öffentlicher Kulturförderung an Bedeutung. Dabei können durchaus widersprüchliche Förderimpulse beobachtet werden: Der Anspruch, mehr Eigenmittel zu generieren, führt in Teilen zu höheren Eintrittsgeldern und finanziellen Barrieren. Zugleich werden Förderprogramme aufgesetzt, die kostenfreie Projekte für sozial Benachteiligte und andere Zielgruppen ermöglichen, wie „Kultur macht stark“ oder „Jedem Kind ein Instrument“. So bietet die Musikschule auf der einen Seite Musikunterricht als Dienstleistung gegen Gebühren an. Auf der anderen Seite gibt es staatlich finanzierte befristete Projekte, um Zielgruppen zu erreichen, die diese Dienstleistungen nicht wahrnehmen (können).

 

Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung

 

Eine kulturpolitische Transformation könnte sich an einer Trendwende weg von der Ökonomisierung öffentlich geförderter Kulturbereiche – hin zu nachhaltigen gemeinwohlorientierten Strukturen – orientieren, wie sie auch die UN-Nachhaltigkeitsagenda 2030 fordert. Damit könnte zugleich eine stärkere Trennschärfe zwischen Kulturwirtschaft und öffentlichen Förderbereichen gewährleistet werden.

 

Auch bietet sich damit eine neue Förderzielperspektive an mit einer stärkeren Bürger- statt bisher primär Angebotsperspektive: Wie kann kulturelle Grundversorgung bzw. Daseinsvorsorge nachhaltig sichergestellt werden? Dabei stellen sich schwierige Fragen. Dies ist einer der Gründe, warum der nicht neue Gedanke der kulturellen Grundversorgung bisher nie wirklich konsequent weiterverfolgt wurde: Wie viel Kultur braucht der Bürger? Und welche?

 

Bei der Frage „Welche?“ könnten ähnliche Kriterien wie die zur Grundversorgung des öffentlichen Rundfunks aufgestellt und diese bei Bedarf sogar in ihren Anteilen bezogen auf kulturelles Erbe, Avantgarde, innovative Experimente und auch kultureller Vielfalt, hier auch lokale und globale Perspektiven, konkretisiert werden. Kulturelle Grundversorgung frei von ökonomisierten Sachzwängen könnte digitale Zugänge schaffen und zugleich bei Verzicht auf Eintrittsgeldern den öffentlichen Raum, beispielsweise mit Theaterstücken oder Konzerten, frei bespielen. Zugleich könnten kulturelle Orte wie Museen zu freizugänglichen „Dritten Orten“ gestaltet werden, wie z. B. in England, wo staatliche Museen schon lange eintrittsfrei zugänglich sind. Eine Musikschule, die keine Eigenmittel durch Musikunterricht generieren muss, kann in Kitas Musikinstrumenten-Karussell oder in Grundschulen musikalischen Gruppenunterricht ermöglichen, Schulorchester und Schulchöre betreuen und Tutorials für digitale Plattformen entwickeln.

 

Eine solche „Ent-Ökonomisierung“ geht einher mit der Stärkung öffentlicher Infrastruktur und schafft so Spielraum für zeitgemäße Weiterentwicklung. Eine stärkere Bürgerorientierung schafft zugleich mehr gesellschaftliche Akzeptanz. Auch Kulturwirtschaft kann von einer nachhaltigen Kulturlandschaft profitieren. Denn eine Stärkung des Kulturinteresses stärkt zugleich das eigene Kundenpotenzial. So könnte Innovationsförderung wieder stärker auf Kulturwirtschaft ausgerichtet werden, die einiges zur Realisierung nachhaltiger Lebens-, Konsum- und Produktionsmuster beitragen kann.

 

Die Frage einer Reduktion ist bei diesen Überlegungen in der Tat nebensächlich. Im Fokus einer Transformation stehen kulturpolitische Visionen, hier die Vision einer nachhaltigen Kultur- und kulturellen Bildungslandschaft. Findet diese Vision in der Kulturpolitik breite Zustimmung, wird sich in einem zweiten Schritt zeigen, wie viel die Gesellschaft bereit ist, in diese kulturpolitische Transformation zu investieren, auf dem Weg zu einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Gesellschaft.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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