Ein Traum

Von Norwegens Bürde, das beste Land zu sein

Norwegen ist schön, sozial, reich, ökologisch, emanzipatorisch, gesund, friedlich, demokratisch, glücklich, inklusiv, sportlich, vorbildlich. In ihrer Zeit als Berlin-Korrespondentin der norwegischen Zeitung Aftenposten ist der Journalistin und Angela-Merkel-Biografin Ingrid Brekke aufgefallen, dass ausnahmslos alle Artikel, die in Deutschland über ihr Heimatland geschrieben worden sind, positiv waren. Es gibt kaum ein anderes Land auf der Welt, das in Deutschland einen derart guten Ruf genießt wie Norwegen. Und das Land schickt sich an, das Image dieses Jahr noch weiter auszubauen. Mit dem Motto „Der Traum in uns“ präsentiert sich Norwegen umfangreich als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Das Museum für angewandte Kunst in Frankfurt wird bis zum Januar 2020 zum „House of Norway“ umbenannt. Und auch über Frankfurt hinaus werben Hunderte von Veranstaltungen dieses Jahr für Norwegen. So kuratiert der Literaturstar Karl Ove Knausgård beispielsweise eine Ausstellung mit eher unbekannten Bildern von Edvard Munch in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Aber nicht nur im Ausland brummt der norwegische Kulturbetrieb mit Hochdruck, auch im eigenen Land werden prestigeträchtige Projekte vorangetrieben. Mit dem Munch-Museum, der renommierten Deichman Bibliothek und der Nationalgalerie beziehen gleich drei der bedeutendsten Kulturinstitutionen des Landes nächstes Jahr neue, architektonisch ambitionierte Gebäude. Ganz in die Nähe der Oper, die zu einem Wahrzeichen und Touristenmagnet Oslos geworden ist. Die norwegische Kulturszene steht offensichtlich blendend da und die Dichte an hochqualitativer Literatur, Musik und Kunst für ein Land mit fünf Millionen Einwohnern beeindruckt zu Recht. Gleichwohl gibt es auch in Norwegen Kontroversen, Herausforderungen und Widersprüche, die uns teilweise ganz ähnlich auch im deutschen Kontext beschäftigen.

 

In Norwegen war es das Doku-Theaterstück „Ways of seeing“ unter der Regie von Pia Maria Roll am Osloer „Black Box teater“, das Ende 2018 die ungemütliche Frage nach rechtsextremen Tendenzen im eigenen Land stellte und einen bemerkenswerten Skandal auslöste. Er drang bis in die höchsten Kreise der Politik vor und führte zum Rücktritt des Justizministers der rechtslastigen Partei FrP. Umstritten war das Stück unter anderem deswegen, weil es Filmaufnahmen von Fassaden privater Häuser von Politikern in die Inszenierung integrierte. Die Kritik an den künstlerischen Mitteln schien nicht grundlos zu sein, denn tatsächlich brannten nach der Aufführung Mülltonnen und das Auto des Justizministers und seiner Frau, die Hauswand wurde beschmiert und das Haus erreichten Drohbriefe. Ist die Kunst in der Wahl ihrer Mittel zu weit gegangen, auch wenn auf den Filmaufnahmen der Häuserfassaden keine Adresse zu sehen war? Kurz nachdem die Öffentlichkeit die Frage zunehmend mit „Ja“ beantwortete, zeigte sich ein Abgrund, den sich auch das „Zentrum für Politische Schönheit“ in der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten in Deutschland nicht schöner hätte ausdenken können: Die Frau des Justizministers hat die Angriffe auf ihr Haus und Eigentum vermutlich selbst inszeniert, um sich als Opfer zu stilisieren. Der Skandal war perfekt und der Prozess läuft immer noch.

 

Aber auch jenseits dieses Theaterstücks und des unvergessenen Massenmordes im Jahr 2011 auf der Insel Utøya spielt Fremdenfeindlichkeit eine Rolle in der norwegischen Debatte. Die Autorin und Performerin Camara Lundestad Joof z. B. hat ihre Erfahrungen als schwarze Norwegerin in dem Buch „Eg snakkar om det heile tida“ verarbeitet. Teile des Buches könnten so oder so ähnlich auch in Deutschland stattgefunden haben, und so überrascht es nicht, dass auch deutsche Theatermacher mit dem Text arbeiten. So hat der deutsche Erfolgsregisseur Jan Bosse in Kooperation mit dem Goethe-Institut eine Gesprächs- und Leseperformance mit Camara Lundestad Joof und der deutschen Schauspielerin Thelma Buabeng über Rassismus-Erfahrungen in Norwegen und Deutschland inszeniert. Auch das Theater in Konstanz entwickelte dieses Jahr ein Stück auf der Basis von Joofs Text.

 

Die norwegische Kulturförderpolitik hat sich vorgenommen, Diversität zu unterstützen und der Vielfalt des Landes gerecht zu werden. Dabei spielen einige landesspezifische Bedingungen eine besondere Rolle. So ist vielen Menschen außerhalb Norwegens gar nicht bewusst, dass es die eine norwegische Sprache gar nicht gibt, sondern zwischen zwei Standardvarianten der Sprache unterschieden wird, dem „Bokmål“ und dem „Nynorsk“. Bokmål ist die dominierende Sprache in den größeren Metropolen und wird von der Mehrheit der Norwegerinnen und Norweger geschrieben und gesprochen. Das Nynorsk hingegen verbindet verschiedene Dialekte in einer einheitlichen Orthografie und Grammatik. Hinzu kommen die Sprachen der samischen Bevölkerung in Norwegen bzw. „Sápmi“. Sápmi ist der Siedlungs- und Kulturraum der Samen, der jahrhundertelang von Norwegen kulturell beherrscht wurde und damit die Sprachtradition gefährdet hat. Das Nynorsk und die samischen Sprachen genießen besonderen Schutz und Förderung in Norwegen.

 

Ein weiteres Spezifikum der Förderpolitik des dünn besiedelten Landes ist der Anspruch, auch außerhalb der Metropolen kulturelle Infrastruktur herzustellen. So findet man in entlegenen Orten und kleinen Gemeinden großzügig ausgestattete Kulturräume, die mit Programm bespielt werden wollen. Trotz des Wohlstands bleibt die Anzahl von offiziellen Förderinstitutionen überschaubar, was für einen Staat mit relativ wenigen Einwohnern nicht überrascht. So bewerben sich alle Kulturschaffenden und Kulturorganisationen bei der gleichen Handvoll von Fördereinrichtungen. Verglichen mit Deutschland gibt es kaum private Förderer oder Stiftungen. Damit bleibt Kulturförderung in erster Linie ein Instrument öffentlicher Haushalte und der Politik.

 

Für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Norwegens ist Deutschland ein Schwerpunktland. Erst im Juni wurde in Oslo in Anwesenheit des deutschen Außenministers Heiko Maas die neue offizielle Deutschlandstrategie der Regierung vorgestellt. Dort heißt es: „Deutschland ist ein besonders wichtiger Markt für norwegische Kultur im Ausland und kann als das wichtigste Sprungbrett für die Internationalisierung von Kunst und Kultur aus Norwegen bezeichnet werden“. Dieser Stellenwert Deutschlands ist eine gute Voraussetzung für die Arbeit des Goethe-Instituts in Norwegen. Allerdings bezieht sich dieser Stellenwert auf den marktgetriebenen Kulturexport aus Norwegen nach Deutschland und nicht umgekehrt. Das Interesse an Kultur aus Deutschland und an deutscher Sprache in Norwegen ist weniger stark ausgeprägt, wobei Berlin eine wichtige kulturelle Referenzstadt ist. So übersteigt die Zahl der Literaturübersetzungen aus dem Norwegischen ins Deutsche deutlich die Übersetzungen in die andere Richtung. Und das gilt auch nicht nur für das Jahr des Gastlandauftritts Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse. Das Goethe-Institut Norwegen hat dies zum Anlass genommen, gemeinsam mit lokalen und deutschen Partnern ein großes dreitägiges Literaturfestival in Oslo als Prolog zur Frankfurter Buchmesse zu veranstalten. In über 70 Einzelveranstaltungen haben im Frühjahr 2019 über 60 Autorinnen und Autoren aus den deutschsprachigen Ländern und Norwegen gelesen und diskutiert. Dabei standen die öffentlichen Treffen zwischen in Norwegen unbekannten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren mit bekannten norwegischen Kolleginnen und Kollegen im Vordergrund. Zu den Teilnehmenden zählten Erik Fosnes Hansen, Jostein Gaarder und Vigdis Hjorth auf der einen und Theresia Enzensberger, Aladin El-Mafaalani oder Mareike Krügel auf der anderen Seite.

 

Die Zahl der Deutschlernenden stagniert in Norwegen seit Jahren und verharrt zwischen dem beliebteren Spanisch und dem etwas abgeschlagenen Französisch. Englisch läuft außer Konkurrenz und wird bereits im Kindesalter unterrichtet. In der „Deutschlandstrategie“ wird die Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse für Norwegen betont, gerade für die Handelszusammenarbeit. So engagiert sich der Hauptverband der norwegischen Industrie für Deutsch als Fremdsprache und ist damit ein interessanter Partner für das Goethe-Institut.

 

Die Verbindungen zwischen Deutschland und Norwegen sind dennoch gut und stabil. Tausende Deutsche zieht es jedes Jahr als Touristinnen und Touristen in ihr Traumland Norwegen. Die Begeisterung für Deutschland in Norwegen ist etwas verhaltener, was auch mit der Besatzung durch Nazideutschland vor knapp 80 Jahren zu tun hat. Trotzdem genießen auch viele Norwegerinnen und Norweger ihre Eigentumswohnung in Berlin und ein gutes Glas Riesling oder die Serie Babylon Berlin, die große Erfolge in Norwegen feierte. Das Goethe-Institut ist Teil und Agent dieses positiven Austauschs. Für das Goethe-Institut ist Norwegen aber mehr als nur ein Traum. Es ist ein vielfältiges Land, das mit ähnlichen Fragen und Herausforderungen konfrontiert ist wie Deutschland auch. Beide Länder können voneinander lernen, wenn sie sich offen und realistisch begegnen.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2019

Martin Bach
Martin Bach ist Institutsleiter des Goethe-Instituts in Norwegen.
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